Beitrag im DLF: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“

Was der Umgang mit Armen und Fremden verrät

Aus Kultur- und Sozialwissenschaften / Beitrag vom 03.04.2014 von Matthias Hennies

„Inklusion“ ist zu einem Modewort geworden: Meist bezeichnet es die Integration Behinderter in Betriebe, Schulen oder Kindergärten. In der Wissenschaft hingegen bedeutet es allgemein die Integration unterschiedlicher sozialer Randgruppen in eine Gesellschaft. In der Kombination mit dem Gegenteil, der „Exklusion“, kann der Begriff helfen, historische Kulturen und Epochen besser zu verstehen.

„Wir stehen hier direkt an Triers berühmtestem Gebäude, der Porta Nigra, die im Mittelalter eine Stiftskirche war.“

In das gewaltige römische Tor am Nordrand der Trierer Altstadt wurde die Simeonskirche eingebaut, erzählt der Historiker Frank Hirschmann. Das zugehörige Simeonstift, eine klosterähnliche Anlage für weltliche Kleriker, steht gleich neben der Porta Nigra. In den romanischen Bauten um den Innenhof ist heute das Trierer Stadtmuseum untergebracht, nur das ehemalige Hospital wird privat genutzt: Die Kapelle, von außen erkennbar an einer halbrunden Apsis mit der Figur des Heiligen Nikolaus, beherbergt ein Bistro. Im Hauptgebäude residiert eine Bank – das entspricht durchaus der Tradition, so Professor Hirschmann, denn im Mittelalter wickelte die Stadt im Hospital auch Geldgeschäfte ab. Gebaut wurde es aber aus anderen Gründen:

„Hier haben wir die Hauptstraße von Trier, und da durch das Tor geht die Ausfallstraße Richtung Koblenz und Mainz. Das ist ideal für ein Hospital, denn anders als man meint, hat Hospital im Mittelalter nichts mit Krankenpflege zu tun. Ein Hospital diente der Aufnahme von Pilgern und von Armen.“
Inklusion als Pflicht der barmherzigen Gläubigen

Man kann die Hospitäler als Symbol für die Integration Armer und Fremder in die mittelalterliche Gesellschaft ansehen. Sie standen wohl in jeder mittelalterlichen Stadt, waren ebenso unverzichtbar wie Brauhäuser oder Badehäuser, sind aber selten erhalten geblieben. Heute kennt man nur noch die außergewöhnlichen, repräsentativen Beispiele wie das Heilig-Geist-Spital in Nürnberg oder das Hôtel de Dieu in Beaune im Burgund.

Fremde Pilger zu beherbergen und Arme zu pflegen, zählte zu den von Gott gebotenen Werken der Barmherzigkeit. Die Gläubigen taten damit etwas für ihr Seelenheil. Die umfassende Inklusion dieser Randgruppen endete jedoch, als im Spätmittelalter die wirtschaftlichen Ressourcen knapper wurden. Hirschmann:

„Das kippt Mitte des 14. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der Klimaverschlechterung, der großen Pest. Insbesondere in Trier setzt damals der dramatische Niedergang dieser Stadt ein, die Judenpogrome fallen darein. Immer mehr Gruppen werden exkludiert aus dieser spätmittelalterlichen Gesellschaft. Immer mehr verfestigt sich der Gedanke: Wer arbeiten kann, der soll auch arbeiten.“

Nun wurde Fürsorge an eine Gegenleistung gekoppelt: Kriegsversehrte etwa könnten Kinder unterrichten, hieß es. Gehörlose könnten die Glocken läuten, weil das ihren Ohren nicht schade. Nur wer überhaupt nicht arbeiten konnte, erhielt ein bronzenes „Bettelzeichen“ und durfte weiterhin um Almosen bitten. Alle anderen, insbesondere die von außerhalb zugewanderten „starken Armen“, blieben von jeder Unterstützung ausgeschlossen. Bis weit ins 19. Jahrhundert galt fortan das Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“.

Die Mechanismen von Inklusion und Exklusion in verschiedenen historischen Epochen haben Historiker und Kunsthistoriker, Theologen, Soziologen und andere Wissenschaftler in einem Sonderforschungsbereich an der Universität Trier zwölf Jahre lang untersucht, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Unter ihnen Iulia Patrut:
„Wir haben uns von diesem Begriffspaar Inklusion und Exklusion versprochen, Auskünfte über das Funktionieren von Kultur, von sozialen Prozessen zu erhalten.“

Die Idee geht vor allem auf den Sozialphilosophen Niklas Luhmann zurück, erläutert die Literaturwissenschaftlerin Dr. Iulia Patrut. Luhmann meinte, dass jede historische Gesellschaftsform durch eine bestimmte Art von Inklusion geprägt worden sei. Vereinfacht zusammengefasst: In der frühgeschichtlichen Stammesgesellschaft gehörte man dem Stamm an oder nicht. In Adelsgesellschaften von der Antike bis ins Mittelalter war nur integriert, wer in die Aristokratie hineingeboren wurde. Und in der Moderne kann sich nach Luhmann jeder selbst um seine Inklusion in eine der sozialen Eliten bemühen, aus welcher Schicht er stammt, spielt angeblich keine Rolle mehr.
Inklusion und Exklusion verändern eine Gesellschaft

In konkreten historischen Analysen erwies sich dieses Modell rasch als zu simpel. Iulia Patrut verweist auf das antike Athen: Dort bestimmte nicht allein der alteingesessene Adel, wie Luhmann meinte, sondern auch Zugewanderte, „Metöken“ genannt, gewannen durch Kompetenz oder Reichtum Einfluss auf das Gemeinwesen.

„Wenn Metöken da eine wichtige Rolle spielten, wurden sie durchaus auch in diese Gesellschaft inkludiert, was dann bedeutet, dass dieser Geburtsadel immer mehr an Bedeutung verloren hat. So hat sich diese Gesellschaft auf vielen Ebenen verändert und der Wandel der Inklusionregeln hat maßgeblich dazu beigetragen.“

Differenzierter betrachtet, verdeutlichen die Mechanismen von Inklusion und Exklusion Charakter, Widersprüche und Veränderungen historischer Gesellschaften. Sichtbar wird das nicht nur in herkömmlichen historischen Quellen, sondern auch durch die Analyse von Kunstwerken. Vor allem Malerei und Literatur vermögen soziale Randbereiche viel subtiler auszuleuchten als Gesetzestexte oder Armutsstatistiken. Zum Beispiel das zwiespältige Verhältnis zu Roma und Sinti: Sie gehören seit Jahrhunderten zur mitteleuropäischen Gesellschaft, waren jedoch immer als „Zigeuner“ abqualifiziert und nie integriert. Diese Ambivalenz spiegelt sich in Caravaggios Gemälde „Die Wahrsagerin“ ebenso wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“, sagt Patrut:

„Wo eine Zigeunerin dargestellt wird, die in die Geschicke der Königshäuser eingreift, die ein Wissen über deren Genealogie besitzt.“

Und die mit diesem „Insiderwissen“ eigentlich zur Gesellschaft dazugehört. Sie wird aber als alt, krank und zerlumpt beschrieben – typische Attribute einer exkludierten Randgruppe. Der Autor beschreibt diesen Widerspruch und geht noch weiter. Kohlhaas beobachtet, wie sehr die „Zigeunerin“ seiner verstorbenen Frau ähnelt:

„Nicht nur, dass die Züge ihres Gesichts, ihre Hände, auch in ihrem knöchernen Bau noch schön, und besonders der Gebrauch, den sie im Reden davon machte, ihn auf Lebhafteste an sie erinnerten: Auch ein Mal, womit seiner Frauen Hals bezeichnet war, bemerkte er an dem ihrigen.“

Die Alte gleicht Kohlhaas‘ Ehefrau so stark, dass die Grenze zwischen außenstehenden „Zigeunern“ und „Deutschen“ verwischt. Kleist hebt die Gemeinsamkeiten hervor, so Iulia Patrut, und kritisiert damit den Ausschluss der „Zigeuner“ aus der Gesellschaft seiner Zeit.

Zu wie viel Integration eine Gesellschaft fähig ist, lässt sich nicht in allgemeinen, über-zeitlichen Kriterien erfassen. Es hängt in jeder Epoche, in jeder Kultur von anderen Bedingungen ab. Ein übergreifender, langfristiger Trend ist aber unübersehbar: In der westlichen Welt ist „Inklusion“ mittlerweile zu einem zentralen Leitbild geworden. Jeder soll die Chance haben, am gesamten gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – im Prinzip. Iulia Patrut:

„Aber in der Praxis haben sich Exklusionsprozesse zum einen auf subtile Felder innerhalb der westlichen Gesellschaften verlagert und zum anderen gibt es natürlich diese Abschottung Europas nach außen. Also den Umgang mit Flüchtlingen, insbesondere von Afrika und im Allgemeinen die Abschottung Europas und der USA, das sind ganz große auch räumliche Exklusionen, die nach ganz archaischen Prinzipien funktionieren und die weiterhin wirksam sind.“
Im ländlichen Raum

Ein Wandel der Inklusion erzeugt eben immer auch neue Formen von Exklusion. Diesen Mechanismus hat der Zeithistoriker Lutz Raphael, Professor an der Universität Trier, mit seinen Kolleginnen Elisabeth Grüner und Susanne Hahn an einem selten beachteten Beispiel aufgearbeitet: der westdeutschen Raumordnungspolitik in den 50er- und 60er-Jahren.

Ziel der Politik war, weitgehend über Parteigrenzen hinweg, die ländliche Armut zu bekämpfen. Agrarregionen wie die Rhön, der Hunsrück und die Eifel oder der badische Odenwald waren seit Langem von der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands abgehängt. Zu den Ursachen zählten neben kargen Böden vor allem zersplitterter Landbesitz und schlechte Verkehrsanbindung an die Metropolen. Schon in der Weimarer Republik hatten Raumplaner nach Gegenmaßnahmen gesucht, während der NS-Zeit ebenso – wenn auch mit anderen Vorgaben. Raphael:

„Natürlich hatte die nationalsozialistische Raumplanung volkspolitische Ziele, rassenhygienische Ziele, rassistische Ziele, ganz klar, aber in der Zeit ist zum Beispiel der Rhön-Plan aufgestellt worden, der sich ganz eindeutig mit einem rückständigen, als bedürftig eingeschätzten Gebiet beschäftigte, mit dem klaren Ziel, auch hier der Idee der Volksgemeinschaft entsprechende, ‚gesunde‘ soziale Verhältnisse zu schaffen.“

Nach Gründung der Bundesrepublik versuchten Politiker zuerst, möglichst viele Bauernhöfe als Familienbetriebe zu erhalten. Die Strategie war vielleicht noch ein Erbe der romantisierenden nationalsozialistischen Darstellung des Landlebens und erwies sich bald als unrealistisch.

„Spätestens als dann die EWG mit den römischen Verträgen und dann die gemeinsame Agrarordnung aufgebaut wurde, erwies es sich als immer schwieriger, diesen bäuerlichen Betrieben wirklich eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Weg dorthin, also entsprechende Flurbereinigung, komplizierte Verfahren bedeuteten, die sich lange hinzogen.“

Dass die traditionelle ländliche Lebensweise nicht mehr funktionierte, illustriert das Problem des „Altenteilers“ besonders deutlich.

„Der Altenteiler, der sich entscheidet, er gibt seinen Hof ab, ist ja nur hinsichtlich seiner Versorgung mit Wohnraum und mit Lebensmitteln gesichert. Er hat aber keinen Pfennig. Und solche Menschen, die – wie es dann in den sechziger Jahren heißt – in unwürdige Abhängigkeiten geraten, das ist ein Thema der von den Kommunen durchgeführten Unterstützungen.“

Noch stärker als der Bauer selbst waren die Familienmitglieder betroffen, denen der Hof nicht gehörte – die Onkel und Tanten, die immer mitgearbeitet hatten, bis dahin aber nicht Mitglied der Rentenversicherung werden konnten.

Zu den ersten Schritten in der Sozialgesetzgebung zählte daher die erste, bescheidene Alterssicherung für Landwirte, die der Bundestag 1957 beschloss. 1961 folgte eine Reform des Sozialhilfegesetzes, von der auch die Bevölkerung der verarmten Agrarregionen profitierte, insbesondere die alleinerziehenden Mütter, deren Lage auf den Dörfern prekär war.

In den 60er-Jahren setzte sich dann allmählich eine neue Strukturpolitik durch. Da die EWG großflächige Landwirtschaftsbetriebe plante, musste sich auch die deutsche Politik der Aufgabe stellen, die kleinbäuerlichen Strukturen – die oft eine lange Tradition hatten – aufzulösen. Staatliche Stellen subventionierten die Schaffung größerer Betriebe und entwickelten zugleich ein völlig neues Leitbild für ländliche Regionen: weg von den bäuerlichen Familienbetrieben -, so Raphael – und „hin zur Schaffung von Arbeitsplätzen, auch von industriellen Arbeitsplätzen, das heißt zur Ansiedlung von Gewerbe und Industrie und zur systematischen Entwicklung der Infrastruktur. Infrastruktur meint ja nicht zuletzt Verkehrserschließung. Die Leute mussten bewegt werden zu pendeln. Das Pendelwesen nimmt in dieser Zeit auch zu und die Strukturpolitik spielt da natürlich eine große Rolle.“

Die Dynamik des Wirtschaftswunders trug das Ihrige dazu bei, dass sich das Bild des ländlichen Raums gründlich änderte. Bald zogen sich asphaltierte Straßen durch Wald und Feld, Pkw parkten vor den Scheunen, die Landarbeit wurde in rasanter Geschwindigkeit durch neue Maschinen technisiert: Von Dreh- und Wendepflügen, Düngerstreuern oder Sämaschinen bis hin zu den riesigen Mähdreschern – die für den einzelnen Landwirt meist nicht bezahlbar waren und sich auch nur auf großen Flächen bezahlt machten.

Der traditionelle bäuerliche Familienbetrieb wurde immer seltener: Viele Bauern nahmen nebenbei Stellen in den neuen Gewerbebetrieben, in der Gemeindeverwaltung oder bei den Genossenschaften an. Viele Frauen stockten das Familieneinkommen auf, indem sie als Teilzeitkräfte in der Industrie anfingen. Insgesamt ging die Zahl der Beschäftigten und der Betriebe in der Landwirtschaft radikal zurück: Von gut 1,6 Millionen eigenständigen Höfen 1949 blieb 1973 noch knapp eine Million übrig, das sind rund 60 Prozent.

Als 1972 schließlich auch die Krankenkassen für Bauern geöffnet wurden, war der Strukturwandel vollzogen, die Inklusion der Landbevölkerung in die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft erreicht. Damit wandelte sich auch das Bild der Armut: Armut wurde zum Sonderfall. Diejenigen, die nicht an der dynamischen Wirtschaftsentwicklung teilhatten, etwa Sozialhilfe beziehen mussten, wurden zur gesellschaftlichen Randgruppe. Die neue Form der Exklusion auf den Dörfern war die versteckte Armut. Lutz Raphael:

„Nach dem Motto: Die haben wir hier nicht. Drogenabhängige? Kennen wir nicht. Und insofern ist das natürlich der Exklusionsschatten im Zeichen einer allgemeinen Inklusion durch Teilhabe am Wohlstand.“