IM GESPRÄCH mit Juliane Tatarinov über die Kriminalisierung des ambulanten Gewerbes auf dem Land

Das Gespräch führte Carolin Retzlaff.

Welche These stand am Anfang deines Projekts?
Bei der Durchsicht „klassischer Zigeunerakten“ im Archiv fiel mir auf, dass der Begriff ‚Zigeuner‘ im ethnischen Sinne gar nicht benutzt wurde, sondern dass der Begriff auf lokaler Polizeiebene eine spezifische soziographische Bedeutung hatte. Diese Feststellung haben bereits einige Frühneuzeitforscher gemacht, sie traf aber auch für die Akten der Weimarer Zeit zu. Hier in einer ländlichen Region fielen vor allem Wandergewerbetreibende, die umherzogen, wie zum Beispiel Pferdehändler und Korbmacherfamilien, in das Zigeunerraster. Für mich war die Motivation aus akteurszentrierter Ebene zu betrachten, wer eigentlich vor Ort von dieser Begriffszuschreibung betroffen war und welche Handlungsspielräume diese Menschen hatten.
Ich bin also davon ausgegangen, dass ich nicht weiß, wer ‚Zigeuner‘ waren, und dass auch die Polizei das nicht wirklich wusste. Meine These war, dass sich die Polizei- und Verwaltungsbeamten die Kriterien selbst suchten und aufgrund dieser Zuweisung entschieden, wen sie in ihre Register aufnahmen.
Im Gegensatz zu meiner Magisterarbeit, die das Thema Zigeunerpolitik ganz auf der Basis von Polizeiakten aufrollt, habe ich bei meinem Promotionsprojekt festgestellt: So einfach geht das nicht, da spielen noch ganz andere Interessen mit rein. Ich kann den Verfolgungsprozess nicht in simple Muster einteilen. Unser übergeordnetes Thema im SFB 600 war „Inklusion/Exklusion“, und dieser Exklusionsprozess in meinem Projekt, dass also Individuen aus rechtlichen, sozialen, gewerblichen Bereichen ausgeschlossen wurden, hatte nur mit dieser Zuschreibung zu tun, die im Einzelfall allein von den Polizeibeamten abhängig war. Es hat sich dann herauskristallisiert, dass die Motivation der Polizei für Verfolgungsmaßnahmen in der Region Trier und Koblenz mit der Thematik des Wandergewerbes als Armutsgewerbe stark verbunden ist.

Was passierte in dieser Hinsicht im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik – warum hast du diesen Untersuchungszeitraum gewählt?
Zigeunerverfolgung fing nicht erst im Nationalsozialismus an. Das sind Prozesse, die schon früher begonnen haben. Mit der Reichsgründung 1871 brachen die innerdeutschen Grenzen auf und das normale Verhaltensmuster der Polizei, nämlich unliebsame Personen einfach in den nächsten Verwaltungsbezirk abzuschieben, hat nicht mehr funktioniert. Es wurde zwar weiterhin praktiziert, aber auf rechtlicher Basis herrschte eigentlich Freizügigkeit: Jeder konnte sich ansiedeln, wo er wollte und frei bewegen. Die Ordnungsmuster sind in dieser Zeit zwar aufgebrochen, aber die Verhaltensmuster sind trotzdem gleichgeblieben. Das führte zu Konflikten. Polizei- und armenrechtliche Interessen waren immer noch eng verbunden. Und aus armenrechtlicher Sicht konnte man Abschiebungen armer Familien vor allem dann legitimieren, wenn man diejenigen, die man nicht haben wollte, als ‚Zigeuner‘ bezeichnete.

Die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ erleichterte also den Abschiebungsprozess?
‚Zigeuner‘ war ja schon sehr lange ein Stichwort, um drastische Verfolgungen vorzunehmen. Auch in der Frühen Neuzeit, zum Beispiel, wurden Menschen mit dieser Rechtfertigung für vogelfrei erklärt, was bedeutet, dass sie ohne Strafe getötet werden durften. In meinem Untersuchungszeitraum erzeugten Verordnungen Druck auf die Lokalpolizei, ‚Zigeuner‘ abzuschieben, aber erklärten nicht, wer darunter zu verstehen sei. Damit hatte es auf der regionalen Ebene jeder lokale Verwaltungsbeamte selbst in der Hand, wen er ‚Zigeuner‘ nannte. Dabei lässt sich beobachten, dass man sich eher für eine strengere Auslegung entschied, um nicht vor den Vorgesetzten als untätig dazustehen oder Streit mit den Kollegen zu haben. In der Weimarer Republik wurden so viele Zigeunerlisten und Fingerabdruckbögen erstellt, die immer mehr Menschen erfassten und schließlich in Zigeunerregistern zentral gesammelt wurden. Diese wurden dann auch im Nationalsozialismus für Verfolgungsmaßnahmen verwendet. Für die Menschen, die einmal registriert und erfasst worden waren, hatte das also schwerwiegende Folgen.

War es eine Schwierigkeit in der Arbeit, gängige Klischees zu vermeiden, um sie nicht zu reproduzieren? Wie bist du mit den notwendigen Kategorisierungen umgegangen?
Das war ganz schwer. Die Frage, die mir immer während der Arbeit gestellt wurde, war: Darf man denn dann jetzt noch ‚Zigeuner‘ sagen? Für heute ist das aber eine Sache, für meine Arbeit eine andere. Ich kann nicht von einem anderen Begriff sprechen, denn mir ging es um die Verwaltungszuschreibungen und die haben nun einmal mit diesem Begriff operiert. Wenn es dann darum ging, akteurszentriert zu fragen, wie sich diese Personen selbst gesehen haben, habe ich auf Wandergewerbeakten zurückgegriffen. In diesen Akten fand sich nicht mehr der Begriff ‚Zigeuner‘. Aber das, was an Argumentationsmustern mit der Bezeichnung des Wanderhändlers impliziert wurde, das hat sich trotzdem aus den Zigeunerverordnungen stark widergespiegelt. Man hat sich also zu distanzieren versucht, um nicht als deviant eingestuft zu werden, indem man etwa sagte, dass man rechtschaffend ist, Steuern bezahlt, eine Wohnung hat und die Kinder zur Schule schickt und ähnliches. Das heißt, die Menschen haben dieses Bild selbst antizipiert und versucht, es zu widerlegen. Mit Kategorien zu arbeiten war also schwer, denn dann sieht man: Irgendwie unterschieden sich diese Menschen ja doch von anderen, weil sie sich, zum Beispiel, durch ihre mobile Lebensweise einfach von der Masse abhoben. Bei Themen wie diesem muss man ständig aufpassen, einerseits Kategorien nicht einfach zu reproduzieren und andererseits der Verschiedenheit dieser Menschen gerecht zu werden. Ich habe das in jedem Zusammenhang anders gelöst.

Welche Quellen hattest du zur Verfügung, um die Verwaltungsprozesse nachzuvollziehen, aber auch dem Blickwinkel der ambulanten Gewerbetreibenden gerecht zu werden?
Da konnte ich sehr vom SFB profitieren und habe anhand der Armutsstudien, die vorher entstanden sind, nachvollziehen können, wie man mit dieser Problematik umgeht. Die Schwierigkeit ist ja, dass die Armen so offensichtlich keine Stimme hatten und die Auseinandersetzung immer im Kontakt mit der Verwaltung, auf dem Amt, passierte. So kann man nie von einer unstrategisch gefärbten Kommunikation sprechen. Man darf sich nicht verleiten lassen, diese Erzählungen in den Briefen und Fallakten als Realität darzustellen.
Ich habe zuerst die Polizeiakten ausgewertet. Dabei ist klar geworden, welche inneradministrativen Konflikte entstanden – schon allein mit dem ‚Zigeuner‘-Begriff und dem Verwaltungshandeln. Dann habe ich mit Gewerbeakten gearbeitet: Das sind Schreiben an die Verwaltung, in denen Menschen erklärten, warum sie einen Wandergewerbeschein haben wollten. Diesen Wunsch mussten sie legitimieren mit Gründen wie unverschuldeter Armut, aber auch Nachweis des Arbeitswillens und der Darstellung wirtschaftlicher Notwendigkeit des Gewerbes. All diese Punkte wurden aber im Vorneherein schon stark angezweifelt: Wandergewerbe war nämlich als ‚Zigeunergewerbe‘ stigmatisiert, das zeigen nicht nur die entsprechenden Gesetze, sondern auch die Debatten im Reichstag, Artikel in den Hausiererzeitschriften und der Tagespresse. Die Ausübung eines Wandergewerbes implizierte automatisch, dass man eine Art ‚Zigeuner‘ war. Man musste sich also immer rechtfertigen und erklären, dass man keiner war. Selbst in der Gewerbeordnung gab es Paragrafen, die den Nachweis für einen festen Wohnsitz verlangten und explizit darauf hinwiesen, dass ‚Zigeuner‘ keinen Anspruch hatten – so, dass sich diese Menschen konstant von dieser Kategorie distanzieren mussten.

Auf welche Spannungsfelder bist du bei der Konzentration auf die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte des Themas gestoßen?
Diese ergaben sich vor allem mit der Auswahl einer ländlichen Armutsregion als Untersuchungszeitraum. Es gab beispielsweise einen Interessenskonflikt, wenn es um die Bewilligung von Wandergewerbescheinen ging. Die Bürgermeistereien hatten ein großes Interesse daran, ihre Armenlasten zu verringern – besonders in der Weimarer Republik nahmen die Armenkosten völlig überhand. Ihnen war also wichtig, dass ihre Armen präventiv Wandergewerbescheine erhielten, damit die Armenkassen entlastet wurden. Diese Personen wurden dann auch von behördlicher Seite in diesem Zusammenhang nicht als ‚Zigeuner‘ bezeichnet, weil sie unbedingt einen Wandergewerbeschein bekommen sollten.
Beantragten mobile Arme jedoch Unterstützung beim zuständigen Bürgermeister, sollten oft die gleichen Personen einfach nur schnell abgeschoben werden, was gut zu legitimieren war, wenn er diese als arm, unrechtschaffend, ‚zigeunerhaft‘ darstellte – also ein krasser Widerspruch.
Auch aus polizeilicher Sicht war die Zuschreibung ambivalent. So verband sich mit den Abschiebungen ein großer Aufwand. Gerade die Landjäger, zum Beispiel, mussten dann lange Transporte organisieren, auf diesen Kosten sind sie oft sitzen geblieben. Sie haben also versucht, dieses Problem zu umgehen. Aber sie mussten sich wiederholt rechtfertigen, wenn sich beispielsweise der Nachbarbezirk beschwerte, dass sie einer Abschiebung nicht nachgekommen sind. Auch die französischen Besatzungsbehörden bauten zusätzlichen Druck auf die deutschen Polizeibeamten auf, die sie stets argwöhnisch betrachteten.
Bei diesen unterschiedlichen Interessen sieht man: Die Zuweisungen wurden so ausgenutzt, wie es eben passte. Es gab keine klaren Richtlinien, wie diese Situationen handzuhaben waren. Ich habe zwei Regierungsbezirke untersucht, Trier und Koblenz, und dabei wurde auch klar: Jeder Regierungsbezirk handhabte das anders.

Wie ordnen sich deine Ergebnisse in den Forschungsdiskurs ein?
Die Zeit vor dem Nationalsozialismus wurde zu diesem Thema bisher sehr stiefmütterlich behandelt. Dabei begann hier der Verfolgungsprozess bereits grundlegend, wie ich zeigen will. Der ‚Zigeuner‘-Begriff wird in der Forschung zum Nationalsozialismus stark diskutiert und da habe ich einen neuen Aspekt eingebracht. Die enge Verflechtung der Zigeunerzuschreibung mit dem Wandergewerbe, quasi als ‚Zigeunergewerbe‘, wurde in diesem Zusammenhang nämlich noch nicht untersucht. Das Problem war, dass das Wandergewerbe auf dem Land gleichzeitig als Auffangbecken für die Armenfürsorge funktionierte und damit eine viel breitere Schicht armer Menschen unter dem Zigeuneretikett ins behördliche Visier rückte, als man zunächst annehmen würde. Dieser Konflikt wird in meiner Studie zum ersten Mal thematisiert und birgt damit durchaus wichtige Aspekte auch für die NS-Forschung und die Nachkriegsgeschichte. Besonders hervor tut sich die Arbeit durch die damit verbundene akteurszentrierte Sicht, also die Herangehensweise, „zwischen den Zeilen“ Schicksale und Selbstdarstellungen der als Zigeuner etikettierten Menschen nachzuzeichnen, sie als Akteure der Geschichte lebendig zu machen und damit keine reine Verfolgungsgeschichte zu schreiben. Es wurde deutlich, wie der rechtliche sowie physische Bewegungsraum der etikettierten Familien zunehmend schrumpfte und eigene Handlungsoptionen eingeschränkt wurden.