Zusammenfassende Darstellung des Projektbereichs B: Armut und Armenfürsorge
Hilfe in und Schutz vor existenzbedrohenden Notlagen und Versorgung mit Lebensnotwendigem angesichts von Mangel und Bedürftigkeit sind konstitutiv für Gesellschaften als “Überlebensgemeinschaften”. In Symbolen, Ritualen, Recht und Moral werden die Regeln und Praktiken für die Existenzsicherung Einzelner und ganzer Gruppen fixiert und damit zugleich elementare Grundlagen der kulturellen, politischen, rechtlichen oder religiösen Ordnungen von Gesellschaften gelegt. Der Umgang mit dem Problem der Armut bzw. den Armen stellt daher immer eine zentrale Form der Selbstdeutung von Gesellschaften dar. Die In- oder Exklusion von Armen in bzw. aus Systemen der Fürsorge und der sozialen Integration gehören zu den wichtigsten Begleiterscheinungen, die sich aus den historisch und kulturell höchst vielfältigen Formen gesellschaftlicher Solidarität ergeben. In den mediterranen und europäischen Gesellschaften hat sich seit der Spätantike der Begriff der Armut zum Leitbegriff für die symbolischen und praktischen Verfahren der Solidarität entwickelt. Fürsorge für die Armen und Maßnahmen zur Reduzierung der Armut sind dabei zu Bezugspunkten für Organisationsformen, Selbstverständnis und Selbstdarstellung sozialer Gruppen und Gemeinschaften sowie für die Rechtfertigung politischer und religiöser Ordnungen geworden. Im Mittelpunkt der Armenhilfe standen dabei Kranke, Alte, Witwen, Waisen und Opfer kurz- und langfristig wirksamer Notlagen (Castel;Fischer; Geremek; Mollat; Hofmann).
Angesichts des seit der Spätantike vornehmlich religiös fundierten Wertes von Armut, Armenfürsorge und -vorsorge für die Gestaltung von Ordnungen in der Mittelmeerwelt und in Europa (wo neben dem Christentum vor allem das Judentum besondere Beachtung verdient ), liegt es nahe, die Möglichkeiten zum historischen und interkulturellen Vergleich zu nutzen und den Wandel der Deutungsmuster von Armut und der Praktiken von Armenfürsorge bzw. Armutsbekämpfung in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu untersuchen. Die Erforschung der komplexen Zusammenhänge zwischen den Leitideen und den Alltagspraktiken im Umgang mit Armut und Armen steht im Mittelpunkt dieses Projektbereiches. Von der Antike bis zur Gegenwart haben sich in unserem Untersuchungsraum in langsamen und langdauernden Umwandlungsprozessen mehrere Modelle von Armut und Armenhilfe herausgebildet, die sich im Verlauf der Entwicklung überlagert haben bzw. nebeneinander existierten und über Inklusion und Exklusion von Individuen und Gruppen entschieden.
Die staatstheoretischen Konzepte der Griechen, die auf Behebung oder vorsorgliche Vermeidung von Armut hinwirkten, waren in ihrer Zielrichtung nicht weniger exkludierend als die Marginalisierung und Kriminalisierung der Armen in der römischen Welt. In der Spätantike kam es zu einer langsamen Ablösung des griechisch-römischen Modells einer poliszentrierten öffentlichen, rein prestigeorientierten Wohltätigkeit (Euergetismus) durch das jüdisch-christliche Modell der Armenhilfe und Fürsorge. Es führte neben dem ökonomischen Kriterium des Mangels das soziale Kriterium der Abhängigkeit und der Schutzbedürftigkeit ein. Verbunden mit dem auf die Urkirche zurückgeführten Ideal freiwilliger Armut scheint seitdem eine ganz neuartige religiöse Fundierung für die symbolische wie praktische Partizipation ökonomisch Gefährdeter oder dauerhaft Bedürftiger an den politischen und religiösen Ordnungen Europas wirksam geworden zu sein(Little; Haverkamp). Außer den Herrschaftsinhabern und -verbänden waren geistliche und laikale Gemeinschaften und Gemeinden die wichtigsten Träger der Armenhilfe(Jersch-Wenzel; Schubert). Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit führte der Anstieg existenzbedrohender Versorgungskrisen zu einem Regelungsdruck, der zusammentraf mit dem allgemeinen Prozess der Verrechtlichung gesellschaftlicher Beziehungen. Eine in hohem Maße rechtlich geregelte Armenfürsorge definierte den Kreis der Unterstützungsberechtigten, verlieh Berechtigungen und vollzog Ausschlüsse. Damit wurde informelle Fürsorge einerseits zurückgedrängt, andererseits war das öffentliche Armenfürsorgesystem ohne Berücksichtigung privater Beiträge nicht zu finanzieren.
Die unterschiedlichen Wege in die Industriegesellschaften waren von der Ausbildung sozialstaatlicher Sicherungssysteme gegen die Risiken lohnabhängiger Beschäftigung begleitet, welche die älteren Formen der Armenhilfe und des Fürsorgewesens meist ergänzten, selten vollständig ersetzten. Mit der Zurückdrängung existenzbedrohenden Mangels und wachsenden Wohlstandsressourcen verschoben sich erneut Betrachtungsweisen und Bearbeitungsformen von Armut: Deren Beseitigung wurde nun zum Beurteilungskriterium politischer und sozialer Ordnungen, die konkrete Weiterexistenz von Armutslagen Gegenstand vielfältiger neuer Formen der Definition, ohne dass die älteren Vorstellungen von Caritas und Armut aufgehört hätten zu existieren (Gatz; Maurer; Schmid; Grebing). Insgesamt rückte im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts die Verfügbarkeit von Lohnarbeit und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ins Zentrum der Deutungsmuster und Problemlagen von Armut (Castel).
Angesichts der historischen Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen und Deutungsmuster von Armut bietet die in den Sozialwissenschaften eingeführte Unterscheidung zwischen primärer Armut (dem Leben unter dem Existenzminimum), sekundärer Armut (dem Mangel an Gütern, die in einer Gesellschaft als relevant angesehen werden) und tertiärer Armut (dem Mangel an Beziehungen) die analytische und klassifikatorische Grundlage für die gemeinsame Forschungsarbeit in diesem Teilbereich (Room;Towensend). Dabei gilt das Interesse des Sonderforschungsbereichs allerdings nicht einer epochenübergreifenden oder -vergleichenden wirtschaftsgeschichtlich orientierten Bestimmung von Armutsgrenzen, also historischen Definitionen primärer Armut, sondern ihren individuellen und gesellschaftlichen Sichtweisen als Grundlagen von Inklusion und Exklusion von Armen. Die Spannweite dieser Thematik erfordert, dass die beteiligten Projekte gemeinsame Schwerpunkte setzen:
1. soll das ambivalente Verhältnis von Deutungsmustern und Repräsentationen einerseits und Alltagspraktiken von Armenhilfe bzw. sozialer, politischer oder rechtlicher Exklusion existenzbedrohter Individuen und Gruppen genau erforscht werden. Besonders der Zusammenhang zwischen religiöser Deutung von Armut und jüdisch-christlicher Praxis der Armenhilfe sowie nicht-religiöser, rein gesellschaftlich-ökonomisch bedingter Sozialhilfe stellt eine durchgängige Leitfrage von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert dar.
2. soll die bisher noch nicht systematisch erforschte historische Semantik der für diesen Projektbereich zentralen Begriffe wie Armut, Fürsorge, Wohlfahrt etc. in ihrem politischen, religiösen und kulturellen Kontext projektübergreifend erfasst und dargestellt werden.
3. soll der Fundierung öffentlicher Armenpflege durch die vielfältigen Formen verwandtschaftlich-familiärer wie auch gemeinschaftlicher Versorgung und Hilfe besondere Beachtung geschenkt werden. Dies ist eine durchgängige Fragestellung, die von der Analyse der Bedeutung frühchristlicher Gemeinden über mittelalterliche Bruderschaften bis zur Bedeutung von Familienunterstützungen in modernen Sozialstaaten reicht und zugleich Perspektiven eröffnet für die Untersuchung von Strategien des Überlebens im Milieu der Armen. Erst die Einbeziehung des gesamten Netzwerkes aller Akteure von Armenhilfe und Fürsorge ermöglicht eine präzise Erfassung aller sozial wirksamen Formen von Solidarität und der damit verknüpften Deutungsmuster von Partizipation und Exklusion.
4. gilt das Interesse den komplexen Zusammenhängen zwischen staatlichen Institutionen der Armenpflege und anderen Initiativen von Wohltätigkeit. Die Bedeutung des ‚Euergetismus‘ für Prestige in der städtischen Welt war von der Antike über das Mittelalter bis hin zum 19. Jahrhundert außerordentlich hoch und aufs engste verknüpft mit Macht und Einfluss im Bereich der politischen Ordnungen. Es geht in diesen und anderen Fällen um die historische Analyse der weiteren sozialen, religiösen und politischen Zwecke, die sich für Helfer und Wohltäter aus Armenhilfe und der Existenz anerkannter Armut ergeben.
5. wird besonders auf die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Armut und Besitz, Armut und Arbeit bzw. in der Neuzeit Arbeitslosigkeit zu achten sein. Damit kommen zugleich der historische Gestaltwandel von Armut und die damit verbundene Neubewertung der Armen in der Neuzeit in den Blick.
6. wird zu berücksichtigen sein, dass Armut immer auch geschlechts- und altersspezifische Aspekte besitzt. Frauen waren und sind stets in besonderer Weise armutsgefährdet (Witwen, alleinerziehende Mütter). Sie spielten aber auch in der Fürsorge für Arme und Kranke stets eine wichtige Rolle. Kinder als Halb- und Vollwaisen sowie alte Menschen beiderlei Geschlechts sind durch Arbeitsunfähigkeit stets von Armut bedroht.
7. wird Armut auch in ihren biographischen Dimensionen zu erforschen sein. Historisch und kulturell unterschiedlich bergen bestimmte Phasen im Lebenslauf jeweils besondere Armutsrisiken.
8. wird dieser Projektbereich die Armen selbst in den Blick nehmen. Hier geht es um die Praktiken und kulturellen Ausdrucksformen, mit denen Gruppen bzw. Individuen mit ihrem spezifischen Status, Empfänger von Hilfe und Gaben zu sein, umgehen. Arme besaßen spezifische Formen der Selbsthilfe, der eigenständigen Organisation und Repräsentation.