Das Gespräch führte Carolin Retzlaff.
Worum geht es in deinem Projekt?
Ich arbeite über Black Canada. Ich interessiere mich dafür, wie Blackness von 1960 bis 1990 im kanadischen Raum konstruiert und repräsentiert wurde. Für mich sind die 60er faszinierend – vielleicht, weil ich Nordamerikastudien studiert habe. Ich denke, wenn es tatsächlich zu Veränderungen gekommen wäre von dem, was es bedeutete, schwarz zu sein, dann wäre das in den 60ern gewesen im Zusammenhang mit dem Black Power Movement, den Black Panthers, dem Civil Rights Movement. Diese Bewegungen haben nicht nur die USA beeinflusst, sondern transnationale Wirkung gehabt. Seit ich mit meinem Projekt begonnen habe, bin ich noch viel begeisterter von dieser Zeit. Ich hatte mich vorher nämlich nicht auf Kanadastudien konzentriert, sondern den Fokus immer auf die USA gelegt. Deswegen eröffnet mir das Projekt neue Wissenshorizonte, weil man in Kanada auf die Konsequenzen und Reaktionen auf die Ereignisse in den USA trifft.
Genauer gesagt beschäftige ich mich mit Konstruktionen von Blackness, also mit der Frage, was es bedeutet, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, schwarz zu sein. Natürlich sagen wir im akademischen Zusammenhang, dass Identität und race Konstruktionen sind, aber sie bringen ja immer eine gelebte Realität mit sich, und das sollte man nicht außen vor lassen.
Wie gehst du bei deiner Untersuchung vor?
Konkret untersuche ich drei Fallstudien: Africville, Caribana und Little Burgundy. Caribana ist ein Karneval in Toronto, der in den 1960ern im Spirit des Multikulturalismus in Kanada gegründet wurde. Die Gründer des Karnevals stammten aus der Karibik, es war also ein Weg, Blackness zu zeigen und zu feiern. Little Burgundy ist eine schwarze Community in Montréal, die in den 1960ern teilweise zerstört wurde, um einer Eisenbahnbrücke Platz zu machen.
Africville war eine der ältesten schwarzen Communities in Halifax und wurde in den 1960ern zerstört, um einer Brücke Platz zu machen. Dies war ein Ort, wo die Bewohner einen „black space“ in Kanada geschaffen hatten. Von den Quellen, die ich bisher ausgewertet habe, kann ich ableiten, dass die Stadt Halifax Blacknessso konstruierte, dass sie nicht nach Halifax passte. Africville war eine sichtbare, unübersehbare Community, die dafür stand, dass es – ja! – in Kanada schwarze Menschen gab, die präsent waren und deren Wurzeln man sehr, sehr weit zurückverfolgen konnte – aber sie sollten unsichtbar gemacht werden. Ein Weg, sie unsichtbar zu machen, war, der Community ihren Lebensraum wegzunehmen. Also zerstörten sie Africville, es existiert nicht mehr.
Bei anderen Diskursen der Zeit über Africville standen Armut und Hygiene im Mittelpunkt. Dabei ging es beispielsweise auch um ein Schlachthaus, das in der Nähe stand und als Argument galt, dass die Menschen in Africville nicht hygienisch lebten. Dabei wurde ignoriert, dass die Bewohner Africvilles schon in den 50ern um fließendes Wasser gebeten hatten, was ihnen von der Stadt Halifax aber nicht gewährt worden war. Es gab also viele Rechtfertigungsmuster, die genutzt wurden, um die Zerstörung von Africville zu rechtfertigen.
Wenn man über diese Situation nachdenkt und darüber recherchiert, kommt man zu dem Schluss, dass diese Menschen weg mussten, weil sie schwarz waren. Wäre das Gleiche mit einer weißen Community passiert, die seit 1848 existierte? Nein, das glaube ich nicht.
Die drei Fallstudien zeigen also unterschiedliche Spannungsfelder: Es sind Beispiele aus dem frankophonen und anglophonen Teil Kanadas und sie spiegeln auf unterschiedliche Weise wider, was es bedeutete, zu einem bestimmten Zeitpunkt in den verschiedenen Communities schwarz zu sein.
Welche Quellen hast du zur Verfügung?
Zur Fertigstellung einer solchen wissenschaftlichen Arbeit bedarf es einer Reihe von Quellen, nämlich Zeitungsartikel, Interviews, Aufzeichnungen der Regierung, Fotografien, die ich gefunden habe, zum Beispiel im Fall von Africville. Dort benutzten die Medien oft Fotos, um ihre Rechtfertigungen, den Ort zu zerstören, zu untermalen. Interessanterweise nutzten die Nachfahren der Africville-Bewohner eben diese Fotos, um ihre Identität zurückzugewinnen.
Indem ich Interviews führe und auswerte, arbeite ich auch mit Oral History. Die Stadt Halifax hatte eine sehr negative Weise, Blackness zu beschreiben – im Gegensatz dazu haben die Bewohner von Africville eine sehr positive Art Blackness zu konstruieren, ihre Identität, Herkunft und Wurzeln zu beschreiben. Erinnerungen spielen eine wichtige Rolle im Fall von Africville.
Wie findest du deine Interviewpartner? Wie findet man die Nachkommen der vertriebenen Bewohner?
Über viele Ecken: In Toronto traf ich Rosemary Sadlier, die Präsidentin der Ontario Black History Society ist. Sie stellte mir die geschäftsführende Direktorin von Heritage Toronto vor, Karen Carter. Sie kannte jemanden in Halifax, der wiederum Lynn Jones kannte. Lynn Jones ist die Schwester vom kürzlich verstorbenen Rocky Jones. Er war einer der radikalsten Black Power Aktivisten in Halifax, brachte zum Beispiel Stokely Carmichael in den 60ern nach Halifax. Lynn Jones half mir, indem sie mich mit dem Präsidenten der Africville Genealogy Society in Kontakt brachte, Irvine Carvery. Ich traf ihn und hatte auch Gelegenheit ihn zu interviewen. Durch einen anderen Kontakt vor Ort hatte ich dann die Möglichkeit, den Gottesdienst in einer ehemals bekannten afrikanischen Baptistenkirche, die heute Cornwallis Street Baptist Church heißt, zu besuchen. Dort traf ich viele Nachfahren von Africville-Bewohnern. Als ich mich Ihnen vorstellte und ihnen erklärte, dass ich über Africville arbeite und über die Construction of Blackness in Kanada schreibe, waren sie sehr fasziniert, dass ich den ganzen Weg aus Deutschland komme, um ihre Geschichte zu erforschen. Es war wirklich bewegend. Danach kamen einige der Gemeindemitglieder und sagten: „Wundervolles Vorhaben, ich gebe gerne ein Interview.“
So kam ich also an die Interviewpartner, ich traf eine Person, die machte mich mit einer anderen bekannt, und so ging das weiter. Aber insgesamt waren es während des ersten Kanada-Aufenthalts nicht viele, nur sechs Interviews. Ich fand aber heraus, dass jedes Jahr eine Gedächtnisveranstaltung organisiert wird, die bald stattfindet. Das wird eine tolle Gelegenheit für mich – nicht nur dafür Interviewpartner zu finden, sondern auch, herauszufinden und zu dokumentieren, wie sie sich an ihre eigene Geschichte erinnern und wie sie selbst ihre Form von Blackness in diesem Moment konstruieren.
Hattest du Gelegenheit, den Ort zu besuchen, wo Africville war?
Durch die ersten Interviews war es mir möglich, Eddie Carvery, den „Griot of Africville“, wie ich ihn nenne, zu treffen. Inzwischen ist er fast 70 Jahre alt und er protestiert seit den 1960er Jahren gegen die Ungerechtigkeiten, die den Bewohnern von Africville widerfahren sind. Das war der emotionalste Moment für mich, denn ich wollte unbedingt dorthin, wo Africville gestanden hatte. Als ich mit Eddie dorthin fuhr, und das Meer sah, war es enorm schwierig für mich, die persönliche und wissenschaftliche Seite zu trennen. Es war wirklich überwältigend. Eddie schloss seine Augen und sagte: „Als alles begann, war ich hier.“ Dann zeigte er in verschiedene Richtungen und erklärte, wo die verschiedenen Familien gelebt haben und wo der Zug durchfuhr. Direkt in diesem Moment kam dann tatsächlich ein Zug.
Nachdem du dich vorher nicht auf kanadische Geschichte konzentriert hattest – was hat dich seit dem Start des Projekts am meisten überrascht?
Es gibt so viel Black History in Kanada! Vor allem gibt es so viel Black History, die bisher nicht nur in Kanada nicht erzählt wurde, sondern auch im europäischen Kontext nicht bekannt ist. Das finde ich faszinierend. Obwohl ich Nordamerikastudien und Englisch studiert habe, lerne ich jetzt ganz neue Aspekte von Nordamerika kennen, besonders neue Formen von Blackness und die Vielfältigkeit der Geschichten, die damit verbunden sind.
Überraschend war für mich auch, wie im Laufe des Forschungsaufenthalts in Kanada meine eigene Identität erst einmal dekonstruiert wurde. Dort erwartete man nach dem vorangegangenen Mail-Kontakt nämlich eher eine weiße Wissenschaftlerin aus Deutschland, glaube ich. Als ich dort war, versuchten dann alle, mich begrifflich irgendwie zu „fassen“: Zuerst war ich „African German“, dann war ich „the girl from Germany“, dann „the black girl from Germany“, am Ende war ich dann Jerry. Im Alltag wurde ich oft als „African German“ wahrgenommen. In Deutschland hätte ich diese Identität gar nicht angenommen, aber dort war ich eben „the black German“ und das führt natürlich genau auf meine Forschungsfrage hin, wie man seine eigene Identität konstruiert. Die Bezeichnung und Wahrnehmung als schwarze Deutsche ist aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft insofern problematisch, da das deutsche Dasein nur „weiß“ sein kann. Wie in der kanadischen Kolonialgeschichte existiert auch in Deutschland eine geschichtliche Amnesie über deutsche Kolonialgeschichte.
Was ist das übergeordnete Ziel für dein Projekt?
Ich möchte, dass mein Projekt dazu beiträgt, die Abwesenheit von Black History in Kanada zu verringern. Diese drei Fallstudien eignen sich, glaube ich, sehr gut dazu, denn sie erzählen unterschiedliche Geschichten, berichten von verschiedenen Narrativen von Blackness. Sie beleuchten auch die kanadische Geschichte im Ganzen. Und mein Projekt öffnet auch ein neues Feld im deutschen akademischen Rahmen, denn es gibt eben nicht nur die Kanada-Studien, sondern auch die Black Canadian Studies, die einfach dazugehören.