IM GESPRÄCH mit Leibniz-Preisträger Lutz Raphael über die Herausforderungen der Geschichtswissenschaft

Das Gespräch fand im Rahmen der Verleihung des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises statt. Foto: Nina Reeber-Laqua.

Ihre Arbeiten reichen von der Beschäftigung mit der französischen Historikerschule der „Annales“ über mikrohistorische Analysen lokaler Herrschaftsstrukturen bis hin zur Längsschnittstudien zum Umgang mit Armen und Fremden im 19. und 20. Jahrhundert. Gibt es ein Thema, eine Frage, die all diese Projekte zusammenhält?

In meinem Verständnis kreisen all meine Forschungsthemen um ein zentrales Problem, was die Geisteswissenschaften allgemein und nicht allein die Historiker umtreibt, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen den Ordnungsideen, die Menschen entwickeln, also den Ideen, wie sie ihre Gegenwart und Zukunft gestalten wollen, und den Strukturen, die sie vorfinden und die sie – häufig ungewollt – mit diesen Ideen (re)produzieren. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Ideen auf der einen Seite und den sogenannten „Strukturen langer Dauer“ auf der anderen Seite ist gerade für den Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts spannend, weil das eine Zeit ist, die von einer sich steigernden Dynamik gekennzeichnet ist. Man spricht typischerweise ja auch von dieser Zeit als der „Moderne“, in der die Zukunftsorientierung sowie die Gestaltungsideen der Menschen eine riesige Rolle spielen. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass vieles sich anders entwickelt hat, als alle erwartet hatten. Dieses Wechselspiel zwischen ständigem Veränderungswillen und Struktureffekten, das ist, glaube ich, eigentlich mein verstecktes Thema, was ich in ganz vielen unterschiedlichen Gegenständen faszinierend finde und versuche, forschend zu erschließen.

 

Was verbirgt sich hinter diesen „Strukturen langer Dauer“?

Das ist so ein eingeführter Begriff bei uns Historikern, dahinter verbergen sich zum Beispiel über mehrere Generationen weitergegebene Familienstrukturen, Muster sozialer Ungleichheit, aber auch Denkgewohnheiten, Denkstile. Zum Beispiel in meinem eigenen Fach: Ich bin Historiographiehistoriker und häufig verblüfft, wie sich in länderspezifischen Brechungen Gewohnheiten, an Gegenstände heranzugehen, halten, obwohl wir um uns herum seit über 100 Jahren enorme Veränderungen erfahren haben. Strukturen langer Dauer finden sich aber auch darin, wie europäische Gesellschaften mit Armen und Fremden umgehen – etwas, was wir in einem eigenen Sonderforschungsbereich bis Ende 2012 erforscht haben. Und bei der Erforschung solch langer Zeiträume stößt man dann auf Phänomene, Verhältnisse, von denen man sagen kann, soviel anders als im Mittelalter ist das doch nicht. Methodisch ist das ausgesprochen spannend, weil man es ja mit Veränderungen zu tun hat, die gleichzeitig Elemente von Wiederholung, von Kontinuität haben. Es ist nicht einfach immer das gleiche, aber es ist so etwas wie ein Modulieren und ein Improvisieren über einer Melodie. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie genau sich solche Strukturen beobachten lassen. Ein Weg ist zum Beispiel, dass man längere Serien von Beobachtungen aneinanderreiht und dann Vergleiche in bestimmten Intervallen macht.

Im Augenblick beschäftige ich mich zum Beispiel mit der Frage, wie sich in Westeuropa eigentlich Handarbeit, vor allem industrielle Handarbeit im Zeichen der Deindustrialisierung und Globalisierung verändert. Das geht in den 1970er Jahren los und ist ein ganz handfestes Thema – Opas Arbeitsplatz ist weg, den Typ des Malochers gibt es nicht mehr. Sehr wohl aber gibt es immer noch viele Handarbeiter, etwa im sogenannten Dienstleistungssektor. Und es gibt den ganz qualifizierten Facharbeiter, der gar kein „einfacher“ Handarbeiter mehr ist, sondern Handarbeiter und Kopfarbeiter zugleich.

 

Ihre Perspektive auf die Geschichte ist ja eine bewusst vergleichende, transnationale. Ist Ihrer Ansicht nach Nationalgeschichte ein Auslaufmodell?

Die Nachfrage nach nationaler Geschichte ist auch im 21. Jahrhundert nach wie vor sehr groß. Ein Blick in die Auslagen der Buchläden belehrt uns eines Besseren, falls man sagen wollte, dass die Nationalgeschichten auserzählt seien und nicht mehr gebraucht würden. Ich habe aus einer Distanz zum methodischen, aber auch zum politischen Nationalismus erst einmal die Europakarte gewählt und die Einbettung Europas in internationale Zusammenhänge als zentrales Forschungsthema gewählt, dem sich die Geschichtswissenschaft für das 19. und 20. Jahrhundert stellen muss. Wenn Kollegen nun Nationalgeschichte betreiben, und wenn sie es gut oder sehr gut machen, beherzigen sie das natürlich auch. Nur ihr Fokus ist ein anderer, nämlich nationale Zusammenhänge zu erklären. Das ist nicht mein Thema.

 

Welche Haltungen oder Lehrmeinungen würden Sie in Ihrem Fach gerne hinterfragen?

Ich wünsche mir vor allen Dingen, dass die Geschichte der letzten 50 bis 60 Jahre aus dem Zwang in Jahrzehnten zu denken herauskommt. Das ist wie bei den Pop-Paraden – die Songs der 50er, 60er, 70er-Jahre – ein Kollege hat das „die Dekaden-Klempnerei“ genannt, das müssen wir loswerden und an der Stelle offenere Zeithorizonte bearbeiten, also zum Beispiel von den 1970er Jahren bis gestern. Das wäre mir ganz wichtig, dass wir dieses Risiko gehen, das auch nicht wirklich ohne Mut zu bewältigen ist und Unsicherheit generiert. Und wenn wir diese offenen Zeithorizonte dann noch in einen europäischen oder internationalen Zusammenhang setzen und in konkrete empirisch Forschungsprojekte übersetzen, wäre aus meiner Sicht viel gewonnen.

 

Wenn Sie den Blick öffnen, und auf Ihr Fachgebiet schauen – wohin entwickelt sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte?

Da kann ich nur Vermutungen anstellen. Sicher ist, dass wir in den letzten zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik – in anderen Regionen der Welt war das schon früher deutlicher ausgeprägt – eine klare Hinwendung zu dem, was ich ein kulturwissenschaftliches oder kulturhistorisches Paradigma nennen würde, beobachten können. Das war sehr heilsam und ist es auch heute noch. Was ich mir wünsche, ist, dass dieses Paradigma ergänzt wird beziehungsweise von diesem Paradigma aus eine Brücke geschlagen werden kann zu angrenzenden Fachkulturen. Ich habe von der Sozialgeschichte, von den Strukturen langer Dauer gesprochen. Da steht das Fach Geschichte in der Pflicht und muss enorm aufpassen, nicht an Relevanz zu verlieren. Das heißt auch, dass die Geschichtswissenschaft Sorge tragen muss, ernst genommen zu werden in ihren Ergebnissen, in den Reflektionen und ganz konkret in der empirischen Arbeit für die Selbstbeobachtung unserer Gegenwart. Für einen Historiker der Neuesten Zeit sind die Probleme, mit denen er sich beschäftigt, immer auch Fragen, die aus der Gegenwart stammen. Es muss also unser Anspruch sein, dass unsere Forschungsergebnisse Referenzpunkte bleiben, zum Beispiel für Politiker, aber auch für normale Bürger, die nicht nur aus Unterhaltungszwecken oder weil sie älter werden, sich für vergangene Zeiten interessieren. Angesichts der Beschleunigung, in der wir leben, ist ja das Zusammenschrumpfen der Vergangenheit ( auf die letzten 15 oder 20 Jahre) etwas Gefährliches und da wäre meines Erachtens die Brücke von einer kulturhistorischen zu einer sozialgeschichtlichen oder wirtschaftsgeschichtlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit wichtig.

 

Geschichtswissenschaft übernimmt im besten Sinne für Sie also auch eine gesellschaftliche Verpflichtung. Wenn Sie es zusammenfassen, warum ist Geschichte, Geschichtswissenschaft heute noch wichtig?

Geschichtswissenschaft ist wichtig, weil sie uns allen hilft, Fehler oder Sackgassen der Vergangenheit zu vermeiden.

 

Meinen Sie wirklich, dass man aus der Geschichte lernen kann?

Lassen Sie es mich anders herum formulieren: „Best practices“, wie das so neudeutsch heißt, in der Geschichte zu finden, das halte ich für sehr unwahrscheinlich, fast unmöglich, aber Fehler durch die Beobachtung von Geschichte zu vermeiden – ja, das ist möglich. Man kann in der Tat Fehlentwicklungen oder Krisen in der Vergangenheit analysieren und stößt dann auf Elemente, von denen ich vermute, dass sie unter ähnlichen Bedingungen immer noch gelten. Wir Historiker können genau solche Wiederholungseffekte benennen. Richtig ist natürlich, dass wir nicht sagen können, dieselbe historische Situation wird es wieder geben. Aber wir beschäftigen uns z.B. mit totalitären Regimen, wir beschäftigen uns mit Krisen der Demokratie, weil wir davon ausgehen, dass Fehlentwicklungen und Gewaltexzesse der Vergangenheit vermieden werden sollten. Also insofern: Ohne eine Mindesterwartung an Lernfähigkeit wäre das Fach Geschichtswissenschaft meines Erachtens nicht wert zu existieren.

 

Damit sprechen Sie bereits eine der großen Herausforderungen des Faches an. Welchen weiteren Problemstellungen muss sich die historische Disziplin Ihrer Meinung nach noch stellen?

Wir sind zum Beispiel sicherlich erst noch dabei, in unseren Gewohnheiten der Kommunikation und auch der Forschungsarbeit die Folgen des Computerzeitalters wirklich umzusetzen. Heute werden enorm viele historische Dokumente eingescannt, (retro)digitalisiert, die Frage des Zugangs zu Archivalien stellt sich neu – ich glaube, das ist alles noch etwas, was wir gerade bewältigen. Das ist das eine. Das zweite ist die Herausforderung, wie Internationalität und Globalisierung als Prozess gedacht, historisch adäquat verarbeitet, erforscht, und dann aber auch wiedergegeben werden kann. Wird das alles drittens auch weiterhin in der Wissenschaftssprache Deutsch bewältigt? Wollen wir das weiterhin? Oder bewegen wir uns schleichend auf eine Wissenschaftssprache Englisch in der Geschichtswissenschaft hin? Das sind drei Herausforderungen. Und Antworten darauf kann man natürlich apodiktisch so oder so geben. Aber wohin der Trend gehen wird, das weiß ich nicht.

 

Was würden Sie sagen, begeistert Sie an Ihrem Forschungsgebiet und der Arbeitsweise des Historikers?

Begeistert bin ich eigentlich von den Überraschungen, da man als Historiker nicht nur mit der Tatsache konfrontiert ist, dass es für die Zeitgenossen häufig anders kam, als sie dachten, sondern dass es auch als Geschichtswissenschaftler immer wieder die Beobachtung gibt, es lief anders, und es muss anders erklärt werden, als es die systematischen Wissenschaften vermuten. Das finde ich wirklich faszinierend, dieser heilsame Zwang, empirisch immer wieder genau hinzuschauen, und dann aber auch daraus den Anreiz zu bekommen, theoretisch nochmal über die Dinge nachzudenken.

Darüber hinaus bedeutet die Arbeit als Wissenschaftler zunächst einmal enorme Freiheit. Freiheit, die wir haben, unsere Forschungsgegenstände wirklich auch entsprechend nach unseren Vorgaben bearbeiten zu können, unabhängig von entsprechenden Auftraggebern zu sein. Das ist mir sehr, sehr wichtig. Und dann motiviert es natürlich, ständig etwas Neues entdecken zu können. Die kindliche Neugier kann man sich als Historiker eigentlich bis ins höchste Alter bewahren.

 

Liegt für Sie ein Reiz auch darin, dass Sie sich Ihren Forschungsthemen zwar stark nähern, diese aber nie zur Gänze oder rein objektiv erfassen können?

Wir sind verdammt oder wir haben den Vorteil, unsere Ergebnisse ständig im Licht der Veränderung, die wir selber erfahren, zu reflektieren. Dieses ständige Nachdenken, sich selber und auch die eigenen Fragen nochmal in Frage zu stellen, das ist schon reizvoll.

 

Die Geschichtswissenschaft wird klassischerweise ja viel mit der einsamen Arbeit am Schreibtisch, in Archiven verbunden. Wie wichtig ist es da, ein Team zu haben?

Ich bin in der ganzen Zeit hier in Trier immer mehr ein Anhänger von Teamarbeit geworden. Und die Chance, die ich hatte, hier nach meinem Ruf als junger Wissenschaftler in ein entsprechendes Team, einen größeren Forschungsverbund einsteigen zu können und ihn weiter auszubauen, das habe ich als eine enorme Bereicherung empfunden. Bei uns gilt wie in anderen Fächern, dass eine Reflexion der eigenen Arbeit in einer Gruppe viel besser funktioniert, wo die verschiedenen Gesichtspunkte aus dem je spezifischen Forschungsbereich zusammengetragen werden und neu entdeckte Theoriebezüge diskutiert werden können. Was sicherlich anders ist als in den Naturwissenschaften, ist, dass wir selten bis zum Endprodukt unserer Forschung alle zusammen arbeiten; es kommt dann eine Phase der Arbeitsteilung, der eine schreibt diesen Aufsatz, der andere schreibt jenes Buch.

 

Stichwort Nachwuchsförderung: Was tun Sie selbst dafür und wo sehen Sie hier Handlungsbedarf?

In den Geisteswissenschaften, zumal in den Geschichtswissenschaften, haben wir in den letzten drei Jahrzehnten eine enorme Expansion des wissenschaftlichen Nachwuchses erlebt. Wir haben auch, glaube ich, eine Revolution hinsichtlich der Unabhängigkeit dieses Nachwuchses erlebt. Das finde ich wunderbar und habe versucht, das auch in meinen eigenen Teams entsprechend umzusetzen und zu fördern. Wir haben jetzt aber auch ein wirkliches Problem beziehungsweise eine Verantwortung gegenüber diesem Nachwuchs, ihn auch gerade für die vielen außeruniversitären Bereiche, in die sie nolens volens gehen müssen oder auch gehen wollen, vorzubereiten. Das ist sicherlich ein Komplex, der ganz neu für uns war und den wir mit Unterstützung der Universitäten besser zu Wege bringen müssen.

Daneben können wir eine weitere Entwicklung beobachten: Das Fach Geschichte wird immer weiblicher und die Zukunft des Faches ist im Wesentlichen weiblich. Das bedeutet aber auch, Karrierechancen, Lebenslaufangepasste Angebote für Nachwuchswissenschaftlerinnen zu finden. Enorm wichtig waren hier etwa die Möglichkeiten, die die DFG eröffnet hat, entsprechende Einrichtungen zu schaffen, natürlich auch der Moment, als die Elternzeit eingerichtet wurde und jetzt Doktorandinnen ihre Projektarbeit unterbrechen und dann in ihre Projekte zurückkehren können. Schwierig wird die Umsetzung indes bei den Postdocs, das ist etwas, das wir noch gar nicht gelöst haben im deutschen System. Für meinen Teil will ich einen Teil meines Leibniz-Preisgeldes eben auch für die Förderung der Postdocs verwenden.

 

Ganz allgemein: Was bedeutet für Sie der Leibniz-Preis?

Erst einmal ein wunderbares Glück und die Chance, die letzten acht Jahre meiner beruflichen Arbeit in Trier in einem Maße selbständig gestalten zu können, wie es mir vorher natürlich nie zu denken eingefallen wäre.

 

Gibt es über die angesprochene Nachwuchsförderung weitere konkrete Pläne für die Verwendung des Preisgeldes?

Es gibt eigentlich drei Kernelemente. Das eine ist, ich möchte Entlastung, nicht Entlassung aus der Lehre. Ich möchte einfach mit vier bis sechs Semesterstunden meinen eigenen Beitrag zur Lehre leisten und zeitgleich Entlastung bekommen. Das heißt mit Hilfe einer Vertretung soll das komplette Lehrangebot meiner Professur weiterhin zur Verfügung stehen. Das zweite ist, dass ich eine Arbeitsgruppe weiterführen und ausbauen möchte, die sich mit diesem Thema „Nach dem Boom- Zeitgeschichte seit 1970“ beschäftigt. Und das dritte, was ich machen möchte, ist eine Arbeitsgruppe aufzubauen, die sich mit der Geschichte der Internationalisierung der Geschichtswissenschaften in den letzten vier Jahrzehnten intensiv empirisch beschäftigt. Wir haben da viele Thesen, aber wir haben eigentlich noch keine ernstzunehmende Zeitgeschichte und keine zeitgeschichtliche Reflektion auf empirischer Grundlage darüber, was genau sich eigentlich im internationalen Vergleich in unserem Fach verändert hat. Und das obwohl schon jetzt, allein rein teilnehmend-beobachtend, enorme Veränderungen zu konstatieren sind.