IM GESPRÄCH mit Andreas Lehnertz über die Bedeutung von Siegeln im 13. bis 16. Jahrhundert

Das Gespräch führte Carolin Retzlaff.

Andreas, du arbeitest zu Siegeln aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Könntest du erst einmal erklären, welche Arten von Siegel es im Mittelalter überhaupt gab?

Siegel können nach ganz verschiedenen Kriterien klassifiziert werden, nach „äußeren“ – zum Beispiel Form, Anbringungsart, Material, Sieglergruppen – und nach „inneren“, nämlich der Aussage, die im Siegel steckt. Die ältere Forschung unterschied praktisch ausnahmslos nach den äußeren Kriterien. Sie sprach bei der Form etwa von spitzovalen, quadratischen oder runden Siegeln, andere Aspekte waren die Anbringungsart oder das Material. Bei der Klassifizierung wurde nach Sieglergruppen unterschieden, es gab zum Beispiel Kaisersiegel, Papstsiegel, Bischofssiegel, Städtesiegel, Bürgersiegel oder Judensiegel.

Innere Kriterien fragen nach der Aussage, die im Siegel steckt und versuchen die Intention des Auftragsgebers als entscheidenden Faktor bei der Schaffung eines Siegelstempels zu erschließen. Dann spricht man beispielsweise von redenden Siegeln, Symbolsiegeln, Stadtabbreviatursiegeln oder auch Heiligen- und Wappensiegeln. Es gibt also kaum noch überblickbare Möglichkeiten, Siegelarten zu bestimmen, sie zu ordnen und zu typologisieren.

Welche Klassifizierung sinnvoll ist, hängt letztendlich immer vom Untersuchungsgegenstand ab. Für die Interpretation der Siegel ist natürlich eine Klassifizierung nach inneren Kriterien am fruchtbarsten – die Siegel gleichen Typs können dann miteinander verglichen werden. Hier liegen die größten Erkenntnispotentiale.

Wurden diese unterschiedlichen Siegelarten denn für den gleichen Zweck genutzt?

Die Nutzung der Siegel umfasste Verschluss-, Beglaubigungs- und Erkennungsfunktionen. Das sind die Grundfunktionen, die Siegel schon seit ihrem Aufkommen in den frühesten Hochkulturen und vor Erfindung der Schrift besaßen: Sie verschlossen Amphoren und Briefe, beglaubigten den Inhalt von Urkunden oder sollten die Qualität von Tuchen verbürgen. Wir haben letztlich noch heute mit ihnen Kontakt, wenn wir etwa das Frischesiegel einer Wasserflasche öffnen, uns auf Ämtern Dokumente mit Stempeln beglaubigen lassen oder einen Brief mit Poststempel erhalten.

Könnte man sagen: Das Siegel war die „Unterschrift des Mittelalters“?

Im sogenannten Mittelalter war insbesondere nördlich der Alpen der Prozentsatz der Schriftkundigen gering. Schreiben konnten vor allem Geistliche. Im Allgemeinen konnten Könige wie Adlige bis an die Schwelle zur Neuzeit nur in Ausnahmefällen schreiben, noch seltener besaßen Bürger und einfache Leute diese Fähigkeit. Deshalb war es eine willkommene Sache, Siegel für die Beglaubigung von Rechtssachen jeder Art zu nutzen und somit die Unterschrift ersetzen zu können. Das geschah seit dem 9. Jahrhundert verstärkt bei Königen, Kaisern und Päpsten. Es folgten im ausgehenden 9., aber vor allem im 10. Jahrhundert, die (Erz-)Bischöfe, dann der Adel seit spätestens dem 11. Jahrhundert, die Städte im 12. und schließlich ihre Bürger im 13. Jahrhundert. Das ist dann auch die Blütezeit des europäischen Siegelwesens, es wird wahnsinnig viel gesiegelt – täglich, vielfältig und von praktisch jedem. Das Siegel war also tatsächlich „die Unterschrift des Mittelalters“ – jedenfalls für die christliche Majorität.

Vollzog sich diese Entwicklung bei den Juden vergleichbar?

Nein, denn Juden konnten in der Regel sehr wohl schreiben und taten das auch. Innerjüdische Rechtssachen, die stets in hebräischer Sprache festgehalten wurden, erhielten die Beglaubigung durch die Unterschrift in hebräischen Buchstaben. War ein Jude an einer Rechtssache in Verbindung mit Christen beteiligt und musste beglaubigen, so gab es grundsätzlich drei Möglichkeiten: Er konnte ein eigenes Siegel nutzen, das Siegel einer dritten Person oder Institution – jüdisch wie christlich – erbitten oder er unterschrieb, auch hier in hebräischen Buchstaben. Oft wurden sogar zwei oder auch alle drei Beglaubigungsmöglichkeiten zugleich verwendet. Juden hatten es also offenbar nicht nötig ein eigenes Siegel zu führen, denn sie konnten ja eine Unterschrift leisten. Führten sie dennoch ein Siegel, so taten sie dies meines Erachtens nach in erster Linie aus Gründen der Selbstrepräsentation und des Prestiges. Dafür spricht auch, dass alle bekannten Judensiegel von Mitgliedern der jüdischen Eliten stammen, gleichzeitig besaßen aber bei weitem nicht alle Mitglieder dieser Eliten auch ein eigenes Siegel. Im Übrigen gab es – ähnlich der Städtesiegel – auch einige wenige jüdische Gemeindesiegel.

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Siegel der jüdischen Gemeinde zu Regensburg von 1356 (Foto nach Abguss im Arye Maimon-Institut Trier – Original im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München)

War es also kein Alleinstellungsmerkmal, ein Siegel zu besitzen?

Seit spätestens dem 14. Jahrhundert konnte praktisch jeder ein Siegel graben lassen und nutzen, der das wollte: Geistliche, Adlige, Bürger, Juden und Frauen. Dennoch besaß nicht jeder ein Siegel, denn es war kostspielig stechen zu lassen. Solche Siegel wurden als Siegelstempel und Siegelringe sicherlich stolz wie Schmuck am Körper getragen: am Finger, mit einer Kette am Gürtel oder um den Hals. Sie waren in der Regel aus Metall, die Stempel konnten auch aus Holz sein und eine Einfassung für die metallene Matrix des negativ gestochenen Siegels haben, mit dem man einen positiven Abdruck – vor allem in Wachs – erzielte.

Ein eigenes Siegel war deshalb durchaus etwas Besonderes, weil der Siegelführer mit genauen Vorstellungen zum Siegelstecher – in der Regel ein Goldschmied – gehen und seine Ideen umsetzen lassen konnte. Der künstlerische Einfluss des Siegelstechers mag dabei auch eine große Rolle gespielt haben, die Entscheidungsgewalt über Siegelbild und Umschrift lag aber natürlich beim Auftraggeber – vielleicht so, wie man sich heute ein Tattoo stechen lassen kann und dem Künstler für einen Entwurf seine Vorstellungen für Bild und Schrift eingibt. Der Künstler sorgt dafür, dass die Idee zur richtigen Entfaltung kommt, die Idee selbst stammt aber vom Auftraggeber, der meist mit recht konkreten Wünschen zum Künstler kommt. Hierin liegt dann das Außergewöhnliche, das Individuelle des Siegels.

In deiner Magisterarbeit hast du dich mit dem „Judensiegel im mittelalterlichen Aschkenas“ auseinandergesetzt. Schließt du an diese Arbeit in deinem Promotionsprojekt an? Was genau ist dabei dein Forschungsinteresse?

Ja, genau. Als ich anfing die Judensiegel zu ermitteln, zu sammeln und zu klassifizieren, gab es schnell zwei Überraschungen: Einmal stellte sich heraus, dass noch bedeutend mehr Judensiegel in den Archiven erhalten sind, als wir erwartet hatten. Dann wurde außerdem klar, dass die Judensiegel bezüglich ihrer Aussage über die einzelnen Siegelführer – aber auch der jüdischen Siegelführer im Allgemeinen – großes Erkenntnispotential besitzen. Also steige ich nun mit meinem Dissertationsvorhaben noch tiefer in die Thematik der Judensiegel ein, weite den Rahmen zeitlich aus, trage ein größeres Siegelcorpus zusammen – etwa 150 Abdrücke in Wachs sowie einige wenige Siegelstempel – und beziehe andere Quellen vergleichend mit ein, etwa jüdische Grabsteine und illuminierte hebräische Handschriften. Weil Siegel wie Grabsteine den Namen des Siegelführers beziehungsweise des Verstorbenen nennen und die illuminierten Handschriften Motive in ihren Bildprogrammen zeigen, die auch bei den Siegeln Verwendung fanden, wird durch den Vergleich eine Neuinterpretation der Judensiegel möglich.

Mein Forschungsinteresse liegt also einmal im Phänomen „Judensiegel als Bedeutungsträger“, der ein breites Spektrum der Selbstrepräsentation bietet – und dies auf engstem Raum, denn solche Siegel besaßen einen Durchmesser von gerade einmal 2-4 cm. Aber natürlich ist auch die rechtliche, diplomatische Seite des Siegels ein spannendes und vielversprechendes Feld: Wer siegelte welche Rechtssachen mit wem? Was passierte, wenn jemand sein Siegel verlor: Konnte es zum Missbrauch kommen? Was passierte mit dem Siegel, wenn sein Siegelführer verstarb? Und warum wurde gegenüber Juden so oft der Vorwurf erhoben, sie seien nicht nur Urkunden- und Münz-, sondern auch Siegelfälscher?

Welche Besonderheiten weisen die Siegel als Quellen der jüdischen Kulturgeschichte auf?

Der besondere Quellenwert des Siegels hängt mit seiner Qualität als Bedeutungsträger zusammen, den es in seiner Blütezeit nördlich der Alpen besitzt. Tatsächlich haben Judensiegel im Vergleich zu Siegeln der Christen einige bemerkenswerte Eigenschaften: Ihre Umschriften sind oft – aber bei weitem nicht immer – bilingual, nämlich hebräisch und landessprachlich beziehungsweise lateinisch. Das hat nicht nur einen höheren Repräsentationscharakter, sondern ist auch Ausdruck der Zweinamigkeit, die insbesondere bei den männlichen Juden herrschte. Juden trugen einen hebräischen Sakralnamen, mit dem sie zur Toralesung in der Synagoge aufgerufen wurden, den sie für Unterschriften verwendeten, der auf dem Grabstein angebracht wurde und der natürlich in der Siegelumschrift erschien. Sie trugen aber auch einen (deutschen) Rufnamen, der eine Übersetzung des hebräischen Namens sein konnte, zum Beispiel Chaim, Hebräisch für „Leben“ und Vivus/Vivelin, der gleiche Name romanisiert – Mosche und Moses/Moysin – oder ganz unabhängig vom Sakralnamen war, zum Beispiel Mordechai und Gumprecht/Gumpert.

Gab es auch Gemeinsamkeiten zwischen jüdischen und christlichen Siegeln?

Die jüdischen Siegelbilder zeigen verblüffende Gemeinsamkeiten mit denen ihrer christlichen Nachbarn. Es gibt hier tatsächlich einen christlich-jüdischen Siegelbilderkanon, wobei die Motive und Symbole aber von Juden und Christen jeweils unterschiedlich gedeutet werden. Gerade mit dem Wissen um die christliche Deutung der christlichen Siegelbilder präsentieren uns Juden meines Erachtens mit ihren Siegeln häufig eine Art Korrektur des christlichen Majoritätsnarrativs und polemisieren sogar dagegen. Ein Beispiel: Ein Augsburger Jude namens Lamblin – also Lämmlein – nutzte für sein redendes Siegel das Agnus Dei-Motiv, welches ja für Jesus Christus steht. Dabei trägt das Lamm ein Kreuz beziehungsweise einen Banner mit Kreuz sowie um den Kopf einen Nimbus. Unser jüdischer Siegelführer besaß nun zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Chuzpe, statt des Banners eine Torarolle – einem Banner gleich – über dem Lamm schweben zu lassen; darüber brachte er an der Stelle des Kreuzes einen Judenhut an und ließ den Nimbus fort. Dazu wählte er Mondsichel und Stern als Symbole für das Volk Israel wie auch den zu erwartenden Messias.

Hier haben wir es mit gemeinsamen Wissensräumen im Sinne der shared culture zu tun, in denen auf verschiedenen Ebenen regelrecht um die Deutungshoheit gekämpft wird – und Judensiegel sind ein Teil davon. Um diese „Kämpfe“ verstehen zu können, ist ein interdiziplinäres Vorgehen nötig, bei dem judaistische, siegelkundliche und kunstgeschichtliche Aspekte einander ergänzen müssen. Auch ist die Anzahl der überlieferten Siegel zwar höher als erst angenommen, fast immer aber existiert nur ein einziger überlieferter Abdruck. Doch wer sich ein kostspieliges Siegel stechen ließ, der siegelte sicherlich auch häufig, vielleicht sogar täglich. Die Dunkelziffer der uns heute nicht bekannten Judensiegel und der weiteren Abdrücke eines einzelnen Siegelführers dürfte höher sein. Was wir heute als Historiker sehen, ist ein kleiner Funke dessen, was einmal vorhanden war.

Schließlich halte ich mit Blick auf polemische Siegelbilder noch einen weiteren, semiotischen Aspekt für bemerkenswert: Judensiegel wurden nie an hebräische Urkunden, also nie an innerjüdische Rechtssachen angefügt, sondern immer an Urkunden für christliche Empfänger. Das heißt, dass die teils vorhandene jüdische Polemik in den Siegelbildern stets in den Archiven der christlichen Adressaten landete.

Kann man anhand der Siegel soziale oder politische Veränderungen nachvollziehen?

Die Zeit von der zweiten Hälfte des 13. bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts war geprägt von zahlreichen Katastrophen für jüdische Gemeinden und ihre Mitglieder: Erfundene, aber weit tradierte Vorwürfe und Beschuldigungen waren immer wieder Anlass für Pogrome gegen die jüdische Minoriät, dabei wurden ganze Gemeinden vernichtet. Höhepunkt waren die Pogrome im Umfeld des Schwarzen Todes, der Pest, in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die einen Großteil der jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum – Aschkenas – auslöschten und bis hin zu einer regelrechten damnatio memoriae führten.

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Siegel des Trierer Juden Jakob Daniels von 1348 (Foto nach Abguss im Arye Maimon-Institut Trier – Original im Landeshauptarchiv Koblenz)

Ich prüfe, ob sich diese deutliche Verschlechterung des christlich-jüdischen Verhältnisses auch auf die Siegel niederschlug. Anzeichen dafür sind polemische Siegelbilder oder Märtyrertitel für Ermordete der Pogrome. Ich frage danach, ob sich Siegelbilder und Umschriften auch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – also nach diesem gravierenden Einschnitt – verändert haben. Bisher ist mir allerdings kein einziger jüdischer Siegelführer bekannt, der sowohl vor als auch nach der Jahrhundertmitte siegelte.

Eine eindeutige Veränderung fand seit etwa Mitte des 15. Jahrhunderts statt, wo ich das Ende meiner systematischen Untersuchungen ansetze: Zu dieser Zeit häuften sich die Ausweisungen der Juden aus den deutschen Städten und Territorien. Der Kontakt zur städtischen Elite wurde deutlich seltener, Ansiedlung und Geschäft fanden eher in der Peripherie denn in Zentren statt. Die Siegelbilder zeigen nun immer häufiger spezifisch jüdische Bilder, etwa Levitenkannen oder Hände der Kohanim („Priester“, das heißt Nachkommen Aarons).

Im Gegensatz dazu waren die zweihundert Jahre zuvor charakterisiert durch einen gemeinsamen christlich-jüdischen Siegelbilderkanon. Bilder, die Juden auf ihren Siegeln zeigten, konnten also auch bei Christen gefunden werden. Ein Judensiegel zu bestimmen, gelingt in diesen Fällen nur über seine Markierung durch die hebräische oder auch bilinguale Umschrift, nicht aber allein durch das Siegelbild. Selbst Judenhüte sind vielfach auf Siegeln von Christen belegt, bei solchen Christen nämlich, die den Beinamen oder Familiennamen „Jud“ oder „Jude“ führten. Gerade die Judenhüte verschwanden aber spätestens 1450 auf den Judensiegeln. Mit dem neuen jüdischen Siegelbilderkanon erhielten auch jüdische Grabsteine neue Symboliken, denn Siegelbilder waren bei Juden und Christen eine Art Vorläufer der Sepulkralkunst und auch für Wappen.

Ab wann verloren Siegel ihre Bedeutung?

Das Siegel an sich büßte an der Schwelle zur Neuzeit seine Bedeutung ein – und zwar in rechtlicher wie auch künstlerischer Sicht. Der Alphabetisierungsgrad unter Christen stieg, die Unterschrift gewann an Bedeutung und das Siegel trat stärker zurück. Natürlich hat mit der Ausweisung der Juden aus vielen Städten und ihre vorherigen monetären Schröpfung durch König und Adlige seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auch die Finanzkraft unter den Juden sowie das Elitebewusstsein stark abgenommen: Siegel wurden für Juden offenbar weniger attraktiv und verloren gleichzeitig kontinuierlich an Rechtskraft.

 

Andreas Lehnertz ist Leo Baeck Fellow der Studienstiftung des deutschen Volkes und arbeitet am Forschungsprojekt „Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich“ des Arye Maimon-Instituts für Geschichte der Juden mit. Am 8. Juni 2015 erhielt er den Dr.-Walther-Liebehenz-Preis für seine Magisterarbeit zum Thema „Judensiegel im mittelalterlichen Aschkenas“.