Das Gespräch führte Carolin Retzlaff.
In Ihrer Habilitationsschrift beschäftigen Sie sich mit dem „Phantasma Nation“: Welcher Aspekt stand im Mittelpunkt der Arbeit?
Es war die Frage danach, was kollektive Selbstentwürfe des ‚Deutschen‘ ausmachen, was sie ein- und ausschließen, und ob und wie die Literatur daran mitwirkt oder auch nicht.
Um 1800 suchte man intensiv nach neuen Möglichkeiten der Selbst- und Weltbeschreibung. Johann Gottfried Herder formulierte beispielsweise das Problem, dass jeder als Einzelner innerhalb bestimmter Unterscheidungen verortet ist und deshalb keinen auf die ganze Welt bezogenen Beobachterstandpunkt einnehmen kann. Andererseits zählt er zu denjenigen, die tatsächlich eine anthropologische Weltbeschreibung wagten. Vergleichbar gelagert ist der Fall interner Grenzziehungen – innerhalb eines Kollektivs. Um eine Gruppe oder Gesellschaft als ‚homogenes Ganzes‘ denken zu können, sind Grenzfiguren notwendig. An ihnen wird verhandelt, wer noch potentielles Subjekt der kollektiven Selbstbeschreibung ist und wer nicht. Das Paradigma der Nation forderte Homogenität nach innen und Unterscheidung nach außen ein. Beides war schwer zu plausibilisieren, es ergaben sich viele beobachtungs- und repräsentationstheoretische Probleme, die auf Grenzfiguren verschoben wurden. Das Sprechen und Schreiben über solche Grenzfiguren war – was wenig verwunderlich ist – unter diesen Umständen enorm produktiv.
Im Untertitel des Buches heißt es: „‚Zigeuner‘ und Juden als Grenzfiguren des ‚Deutschen’“. Inwiefern waren denn beispielsweise ,Zigeuner‘ als Grenzfigur für den ,deutschen‘ Selbstentwurf maßgeblich?
In meiner Arbeit habe ich untersucht, wie der Begriff ‚Zigeuner‘ über die Jahrhunderte hinweg verwendet wurde, um imaginäre Grenzen im Inneren der Gesellschaft und Kultur zu ziehen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Bedeutung der Rede über ‚Zigeuner‘ als Grenzfigur bis heute wirklich vollkommen unterschätzt wird. Erstens liegt die Funktion der ‚Zigeuner‘ als Grenzfigur im blinden Fleck der Selbstbeschreibungen als homogenes (‚deutsches‘) Kollektiv. In der Grenzfigur ‚Zigeuner‘ konvergieren Identisches und ‚Differentes‘ im Bezug auf das ‚Deutsche‘ und seine imaginäre Genealogie – dazu vielleicht später noch. Damit hängt auch zusammen, dass die Produktivität dieses Redens über den ‚Zigeuner‘ für den ,deutschen Selbstentwurf‘ ausgeblendet wird. Zweitens bleibt die lange Geschichte der Präsenz und Exklusion der als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Personen auf dem Gebiet Deutschlands seit dem 15. Jahrhundert weitgehend unbeobachtet und unterbelichtet. Die wenigsten wissen, dass es diese Geschichte gibt.
Wissen Sie auch, warum das so ist?
Ja, es hängt mit dem oben Beschriebenen zusammen: Nach der eigenen Geschichte von Grenzfiguren fragt man nicht. Erst in den letzten Jahrzehnten entstehen geschichtswissenschaftliche Arbeiten, die die Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und Europa ab dem 14. Jahrhundert rekonstruieren.
In der Zeit, mit der ich mich beschäftigt habe, waren ‚Nation‘ und ‚Bürgerlichkeit‘ große Themen deutschsprachiger Selbstbeschreibungen. Eine Ebene tiefer ging es um Ethnizität, politische Kohäsion, Regierbarkeit und individuelle bürgerliche Lebensführung. In all diesen Hinsichten werden Grenzziehungen im Inneren des zu konstituierenden Kollektivs durch Bezugnahme auf die Grenzfigur ‚Zigeuner‘ vorgenommen. ‚Zigeuner‘ selbst sind in der Regel kein potentielles Subjekt dieser Kollektive, aber auch keine ‚Anderen‘ mit einer eigenen Geschichte wie beispielsweise die Franzosen, sondern eben Grenzfigur.
Das hat eine lange Tradition. ‚Zigeuner‘ stehen in frühneuzeitlichen Texten beispielsweise häufig für Christen, die eigentlich keine Christen sind. Sie werden also zur Figur einer zentralen Paradoxie, mittels derer der Selbstentwurf in der Epoche prozessiert wird: Ist man nun richtiger Christ oder nicht? Die ‚Zigeuner‘ werden zu Prototypen dieses Grenzbereichs. Viele Texte variieren beispielsweise das Sujet, dass ‚Zigeuner‘ ihre Kinder mehrfach taufen lassen, und sogar ihre Anwesenheit in Europa wird damit begründet, dass sie sich auf einer Bußfahrt befänden, weil sie kurzzeitig vom Christentum abgefallen seien und sich nun wieder dazu bekannt hätten. Es geht dabei nie um ‚Zigeuner‘ oder Sinti und Roma als Subjekte. Sie sind diejenigen, die da sind und doch nicht da, zugehörig und doch nicht-zugehörig.
Die Paradoxien, die sie jeweils verkörpern, ändern sich je nachdem, was gerade der ‚wunde Punkt‘ der Selbstbeschreibungen ist, deren Subjekt sie nicht sind. Im Großen und Ganzen sind sie erst Grenzfigur der christlichen Religion, dann der deutschen Nation – im Hinblick auf soziale und ethnische Homogenität beziehungsweise Heterogenität.
Wurde da nicht mindestens darüber spekuliert, wer die ‚Zigeuner‘ eigentlich sind?
Ich habe Hunderte literarische, wissenschaftliche und publizistische Texte ausgewertet – es gibt wirklich eine enorme Menge – vom 16. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit von 1770 bis 1920 lag. Und was ganz interessant ist: Immer wieder wurde die Herkunft der ,Zigeuner‘ als Rätsel aufgegeben, das stets aufs Neue enthüllt werden musste. Um dieses Rätsel zu klären, musste man mitunter eine gesamte Weltbeschreibung verfassen, innerhalb derer dann diese als ,Zigeuner‘ bezeichnete Gruppe einen Platz bekommen musste. Man könnte fast meinen: Hier ging es doch um die Geschichte der ‚Zigeuner‘. – So ist es aber nicht. Indem man die Herkunft der ‚Zigeuner‘ besprach, erzählte man oft eine Art Lehrstück, aus dem man etwas über die eigene Identität lernen sollte. Es handelt sich natürlich um den instrumentalisierenden Fremdblick auf die als ‚Zigeuner‘ Bezeichneten.
Welche Veränderungen konnten Sie beim Vergleich der Texte feststellen?
Die Modifikationen korrelieren mit den wichtigen Paradigmen des Selbstentwurfs. In der Zeit, in der man einen genuin christlichen Selbstentwurf hatte und sich als Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen sah, wurde die Herkunft der ‚Zigeuner‘ als Grenzgang zwischen Christentum, Heidentum und manchmal auch Islam erzählt. Da werden sie also zur religiösen Grenzfigur. Sie seien beispielsweise in Ägypten Heiden gewesen, seien zum Christentum konvertiert und dann wieder von ihm zugunsten des Islam abgefallen, um schließlich vom Papst selbst wieder für das Christentum gewonnen worden zu sein. Um für ihren Wankelmut Buße zu tun, zögen sie als christliche Pilger durch Europa. Das sind Erzählungen, die sehr häufig in frühneuzeitlichen Quellen, in Stadtchroniken, aber auch in Gelehrtenabhandlungen, vorkommen. Um 1800 oszilliert die Figur des ‚Zigeuners‘ häufig zwischen einer Gründungsfigur der ‚Nation‘ – es sind häufig weibliche ‚Zigeunerinnen‘, die als eine Art ‚Gründungsmütter‘ eingesetzt werden – und einer Außenseiter-Position – wenn sie als ethnisch Fremde, die nicht zum ‚Volk’ gehören, dargestellt werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert sind sie besonders häufig Grenzfigur der Bürgerlichkeit und der ‚anständigen‘ Lebensführung, bis sie Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere mit dem Aufkommen der Eugenik die Figur des ‚Zigeuners‘ zunehmend ihre Ambivalenz verliert und im Außen der Gesellschaft verortet wird. Während des Nationalsozialismus kam es zum Völkermord an einer halben Million Sinti, Roma und anderen, auf die das Stigma ‚Zigeuner‘ bezogen wurde.
Die Quellen waren also zahlreich und vielfältig: Wie sind Sie bei der Selektion und Bearbeitung vorgegangen?
Ursprünglich sollte die Untersuchung nur der Zeit zwischen 1770 bis 1920 gelten. Ich habe aber festgestellt, dass es unerlässlich ist, frühere Darstellungen zu berücksichtigen, um die Vielschichtigkeit der Repräsentationen von ‚Zigeunern‘ in Klassik und Romantik zu analysieren. Es hat in dieser Zeit eine ausgeprägte Rezeption früherer Texte über ‚Zigeuner‘ gegeben. Ohne den Facettenreichtum der ‚Zigeuner‘ als religiöser Grenzfigur zwischen ‚Heiligen‘ und ‚Heiden‘, ohne die ‚Zigeunerinnen‘ eines Jakob Balde oder eines Johann Klaj, die als Muse Clio geschichtliches Denken (!) und Kunst (!) in die deutschen Lande bringen, nachdem sie sich Mesopotamien, Indien, Ägypten, Griechenland und Rom aufgehalten haben, kann man den Umstand, dass ‚Zigeuner‘ in Klassik und insbesondere Romantik häufig an ganz neuralgischen Stellen im Geschehen auftauchen, kaum angemessen erklären. Bislang sprach man von Aufwertung oder Faszination gegenüber den ‚Zigeunern‘ als einer Erfindung der Romantik. Richtig ist, dass eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit den ‚Zigeunern‘ als Grenz- und Gründungsfigur des Selbstentwurfs und der Literatur als teilautonomer Kunst stattfindet. Nicht diese zweifache Eigenschaft als Grenzfigur ist neu, es wächst die Komplexität ihrer Konzeptualisierung und es verändert sich die Art und Weise, wie sie literarisch dargestellt wird.
Ich habe also Hypothesen aufgestellt und sie immer wieder überprüft, modifiziert und präzisiert. Zu den Ausgangsfragen zählten: Warum wird so enorm viel über ‚Zigeuner‘ geschrieben, während die Personen, die man als solche sieht, exkludiert und ausgeblendet werden? Und eben, wie Sie vorhin fragten: Wie erklären sich Wandel und Umschlagpunkte? Gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Textsorten?
Ich habe sowohl expositorische Texte – wie Kosmographien, Chroniken, Abhandlungen der Aufklärungszeit, anthropologische und ethnographische, bevölkerungspolitische Texte, geschichtliche Werke und Reiseaufzeichnungen – als auch literarische Texte im engeren Sinne untersucht. Zu den literarischen Texten zählen auch kanonisierte, anspruchsvolle Werke von bekannten Schriftstellern wie Novalis, Goethe, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist, Adalbert Stifter, Wilhelm Raabe oder Franz Kafka – Texte, in denen, wie ich meine, die Instrumentalisierung des ‚Zigeuners‘ als Grenzfigur durchschaut und reflektiert wird. Das bedeutet, dass dort der Widerspruch zwischen der sehr starken Präsenz des ‚Zigeunerischen‘ in der Verhandlung des Deutschen und der Ausgrenzung der als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Personen offen gelegt wird.
Der ‚Zigeuner‘ war also in der Literatur durch die Jahrhunderte weg eine präsente Figur, wurde aber in Realität ausgeschlossen?
Ja, es existierte eine wirklich sehr ausgeprägte Diskrepanz zwischen enormer imaginären Präsenz auf der einen Seite und dem Umgang mit den realen Personen auf der anderen Seite. Sobald man Menschen als ‚Zigeuner‘ sah, wurden sie häufig – aber nicht immer – ausgeschlossen. Im 18. und 19. Jahrhundert gibt es allerdings auch Beispiele dafür, dass ‚Zigeuner‘ selbstverständlich zu den Bewohnern von Gemeinden gehörten, wenn etwa über bestimmte Berufsgruppen wie Steinmetze oder Schmiede berichtet wird, und nebenbei der Begriff ‚Zigeuner‘ fällt. Auf diesem Feld ist noch geschichtswissenschaftliche Arbeit zu leisten, aus meiner literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive kann ich unter Berücksichtigung der bisherigen geschichtswissenschaftlichen Befunde sagen, dass die rechtliche Inkonsistenz im Umgang mit ‚Zigeunern‘ sowie der Umstand, dass es bis ins 20. Jahrhundert völlig diffus blieb, wer überhaupt ‚Zigeuner‘ sei, konform gehen mit meinem Befund, dass ‚Zigeuner‘ als wichtige Grenzfigur imaginiert und im Diskurs situiert werden.
Seit welcher Zeit waren ‚Zigeuner‘ in der wissenschaftlichen Literatur relevant? Welche Aspekte kristallisierten sich bei der Auseinandersetzung mit den Quellen heraus?
Bereits Sebastian Münster erzählt eine Herkunftsgeschichte und schildert sogar eine eigene Begegnung mit ‚Zigeunern‘ in seiner berühmten Kosmographie von 1544. Es gab schon Ende des 17. Jahrhunderts eine Dissertatio, eine umfassende wissenschaftliche Abhandlung über ‚Zigeuner’, von Jacob Thomasius. Die Gelehrten haben sich recht früh mit Religion, Herkunft, Sprache, Aussehen, Beschäftigungen und sozialem Verhalten der ‚Zigeuner‘ beschäftigt, wobei ich dieses Interesse im vorhin skizzierten Sinne erkläre. Die Zahl der Abhandlungen explodiert geradezu in der Zeit um 1800 – was einerseits mit der generellen Zunahme der Veröffentlichungen zusammenhängt, andererseits mit der Brisanz, die dem Paradigma Nation und den ‚Zigeunern‘ als ihrer Grenzfigur zukommt. Um 1800 wird die Ethnizität der ‚Zigeuner‘ zunehmend problematisiert. Es entstehen sprachwissenschaftliche Abhandlungen, die das Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, als Sanskrit-Sprache richtig erkennen. Das ist im Kontext der frühromantischen Sprachphilosophie sehr wichtig und schlägt sich auch in literarischen Texten nieder. Andererseits beginnen nach der Festlegung Indiens als ursprünglichem Herkunftsort auch die Spekulationen darüber, ob ‚Zigeuner‘ nicht etwa den niedrigsten Kasten oder den Kastenlosen angehört hatten, um so ihre Exklusion zu rechtfertigen.
In den literarischen Texten gab es eine weitere Besonderheit, die Sie bereits angesprochen haben: Hier wurde der ‚Zigeuner‘ bewusst als Grenzfigur eingesetzt. Wie hat das funktioniert?
Wie kann ein Text so etwas leisten? Beispielsweise, indem die Fluchtlinien aller verhandelten Konflikte in einer ‚Zigeuner‘-Figur wie Lisbeth/Elisabeth in Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas konvergieren. Sie liegt im ‚blinden Fleck‘ aller Unterscheidungen im Text, sie scheint all das zu überblicken, was selbst der Erzähler nicht weiß, sie steht in einem ungeklärten Verwandtschaftsverhältnis zur getöteten Ehefrau Kohlhaas‘, sie verkörpert in der Textlogik etwas letzten Endes Richtiges; gegen Ende des Textes gibt es eine Szene, in der sie als altes, dunkles und in Lumpen gekleidetes Bettelweib auf Krücken in einer Menschenmenge steht: Dies ist der Platz, den die exkludierenden Semantiken der Zeit für eine arme, alte ‚Zigeunerin‘ vorsehen. Im Spannungsverhältnis zwischen der erhobenen Textposition insgesamt und dieser diskursiven Stellung als Exkludierte entsteht eine Hinterfragung von Abwertung und Ausschluss. Ein anderes Beispiel sind Figuren wie Achim von Arnims ‚Zigeuner‘-König Michael; sie sterben – in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Implikationen – einen jeweils deutlich als Unrecht markierten Tod. Das Unrecht führen die Texte deutlich auf Fremdheitszuschreibungen zurück. So wird Michael zu Unrecht verdächtigt, gestohlen zu haben, er weist den Verdacht als Vorurteil auf und versucht letztlich erfolglos, dagegen anzukämpfen. In Arnims Text wird auch die Eigenschaft der ‚Zigeuner‘ als Grenzfigur reflektiert – recht gut greifbar etwa in einer Szene, in der Michaels Tochter Isabella auf einem Grenzpfad zwischen zwei Gemarkungen lange zwischen Leben und Tod schwebt. Ich könnte viele weitere Textbeispiele anführen, in denen das gesamte Repräsentationsregime und die Exklusion der ‚Zigeuner’ problematisiert werden.
Warum haben sich ‚Zigeuner‘ so gut als Grenzfigur geeignet?
Vielleicht anfangs – d.h. im 15. Jahrhundert –, weil sie ein ‚Surplus‘ besaßen, das man nicht kannte und zuordnen konnte. Eine zusätzliche Sprache, Musik, Tanz, teilweise besondere Kleidung oder besonderes Aussehen. Dieses ‚Mehr‘ wirkte anziehend, andererseits konnte es auch als Begründung von Abgrenzung und Ausschluss dienen. Bald verselbständigte sich die Verortung der ‚Zigeuner‘ als Grenzfigur. Die gemeinte Gruppe wurde nicht ethnisch definiert, phasenweise galten auch alle als ‚Zigeuner’, die infolge von Krieg und Verarmung keinen festen Wohnsitz mehr hatten. Dies ist auch der Grund, weshalb man, wenn man über die Zeit vor 1933 spricht, den Begriff ‚Zigeuner‘ nicht durch Sinti und Roma ersetzen kann. Es muss jedes Mal genau geprüft werden, welcher ‚Zigeuner‘-Begriff dem jeweiligen Text innewohnt. Ein weiterer Grund liegt vielleicht in der Oralität der Überlieferung der ‚Zigeuner‘ – im eklatanten Unterschied zur Schriftkultur der ebenfalls – aber anders – zu ‚internen Fremden‘ gemachten Juden.
Gibt es Bezüge zur Darstellung von Juden?
Die Parallelisierung von ‚Zigeunern‘ mit Juden setzt schon im 16. und 17. Jahrhundert ein. So lanciert beispielsweise Wagenseil in einem Kapitel seiner berühmten und bis ins 19. Jahrhundert intensiv rezipierten Abhandlung über die Meistersänger von Nürnberg eine ganz abwegige These: Die ‚Zigeuner‘ seien eigentlich Juden, die sich während der Pestpogrome fünfzig Jahre lang in Höhlen und Erdlöchern versteckt und dort eine ethnische Identität und künstliche Sprache erfunden hätten, um nicht weiterhin als Juden verfolgt zu werden. Auch Martin Luther stellt Vergleiche zwischen Juden und ‚Zigeunern‘ an. Solche Vergleiche gehen immer zu Lasten der Juden, die nicht nur die Tradition der Schriftauslegung sondern auch einen eigenen Gelehrtendiskurs besaßen und auch im Dialog mit christlichen Gelehrten und Theologen standen. Diese Vergleiche delegitimerten also jüdische Stimmen. Ich habe sie als Potenzierung von Exklusion und als phantasmatische Transfers untersucht, denn es ist zu beobachten, dass Eigenschaften von ‚Zigeuner‘ auf Juden und umgekehrt übertragen werden.
Könnte man bei der Betrachtung dieser Grenzfiguren sagen: Im Umgang mit Juden herrschte in der Gesellschaft die Angst vor und im Umgang mit ‚Zigeunern‘ die Faszination?
Es ist schwer, das so stark zu polarisieren, weil von den Juden auch eine gewisse Faszination ausging und auf der anderen Seite auch eine gewisse Angst vor ‚Zigeunern‘ herrschte. Es gab Ängste, die seit der Frühen Neuzeit ganz häufig aufkamen, zum Beispiel, ‚Zigeuner‘ seien Zauberer. Es gibt in Abhandlungen Berichte darüber, dass sie in Ägypten gesichtet worden wären, wie sie an Zauberei und Magie partizipiert hätten und dass sie im Bunde mit dem Teufel stünden – andererseits könnten Sie auch Pilger sein, dann wäre es so, als würde einem der vertriebene Jesus in den ‚Zigeunern‘ begegnen, man müsste sie also unbedingt beherbergen. Diese Inklusionsmöglichkeit schließt der Antijudaismus konsequent aus. Die christliche Ordnung exkludiert Juden stärker und macht aus ‚Zigeunern‘ Grenzfiguren. Auch der Antisemitismus ist im 19. Jahrhundert oftmals radikaler als die Bestrebungen, ‚Zigeuner‘ auszuschließen.
Diese Zusammenhänge sind noch nie umfassend beleuchtet worden. Wie erklären Sie sich das?
Die Frage nach kultureller Homogenität beziehungsweise Heterogenität in historischer Perspektive rückt zunehmend in den Fokus literaturwissenschaftlicher Forschung. Unlängst ist eine umfassende Monographie von Klaus-Michael Bogdal über die Konstruktion der ‚Zigeuner‘ von ihrer Ankunft bis heute in ganz Europa erschienen. Ich habe mich auf deutschsprachige Texte konzentriert und Korrelationen mit der Arbeit am deutschen Selbstentwurf aufgedeckt und beschrieben.
Bringt es also nichts, nach „einfacher“ Darstellung von ‚Zigeunern‘ und Juden zu fragen?
Nein, positiv formuliert: Ich glaube, es bringt mehr, das diskursive Umfeld dieser Darstellungen mit zu betrachten. So stößt man auf die phantasmatische Suche nach Einheit im Sinne einer internen Homogenität und Gleichartigkeit – als Nation, als Volk, früher als Christenheit. Grenzfiguren verleihen dieser Einheit Evidenz. In vielen anspruchsvollen literarischen Texten, die ich untersucht habe, werden ‚Zigeuner‘ noch in anderer Weise mit Selbstreflexion in Verbindung gebracht: Die Texte beschreiben sie so ähnlich, wie sie sich selbst als Kunst beschreiben. Dies hängt mit dem vorhin angesprochenen unkontrollierbaren, uneinsehbaren ‚Surplus‘ zusammen, mit verschachtelten Perspektivierungen, mit Entfaltung und Verschiebung von Paradoxien der Selbstbeobachtung und der historisch-genealogischen Selbstbegründung. Einfach ist das keineswegs.
Warum ist es wichtig, Grenzfiguren zu verstehen?
Sie sind eine Art hoch produktives Perpetuum mobile des Selbstentwurfs.
Exklusion ist meiner Meinung nach erst dann endgültig beendet, wenn die semantische Sogwirkung, die eine solche Grenzfigur über Jahrhunderte entfaltet hat, als solche verstanden wird.
Manche Grenzfiguren sind darüber hinaus hoch wandlungsfähig und übersetzen sich aus einem Leitparadigma des Selbstentwurfs in ein anderes, so dass die Rekonstruktion des Wandels der Grenzfigur zugleich ein Stück Genealogie des Selbstentwurfs ausmacht.
Informationen zu Iulia-Karin Patrut finden Sie hier.