Projektbeschreibung
In Geschichte und Gegenwart lassen sich zwei grundsätzliche Strategien unterscheiden, mit abweichendem Verhalten umzugehen: eine exkludierende und eine inkludierende. Moderne westliche Gesellschaften neigen zu exkludierenden Kontrollstrategien. Anhand der Biographien junger Migranten, die in starken wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Abhängigkeiten stehen und deswegen auch häufig strafrechtlich auffällig werden, soll gezeigt werden, ob und wie sich Netzwerke, teils kompensierend mit dem Ziel von Partizipation und Inklusion, teils aber auch eskalierend und Exklusionsprozesse besiegelnd, auswirken können. Über Netzwerke werden etwa Arbeits- und Ausbildungsplätze sowie Schwarzarbeit vermittelt oder Unterschlupf- und Rückzugsmöglichkeiten gewährt. Ebenso kann ein (lockerer) Cliquenverband Hilfe bei Behördenkontakten vermitteln, eventuell aber auch den Zugang zu Drogenmärkten, falschen Pässen oder Waffen, bis hin zum vollständigen Einstieg in das organisierte Verbrechen und die kriminelle Subkultur eröffnen.
Ob jeweils eine exkludierende oder eher eine inkludierende Wirkung eintritt, hängt allerdings nicht nur von der Existenz und Art entsprechender Netzwerke, sondern auch von vielen anderen Umständen ab: von den sonstigen Kontakten, von der Art der Straftaten, von sonstigen Eigenheiten der Person des Abweichenden und natürlich auch von der regional und nach den handelnden Personen sehr unterschiedlichen konkreten Ausgestaltung von institutionellen Interventionsstrategien. Es ist also methodisch erforderlich, die Vielzahl der möglichen anderen Einflussgrößen zu kontrollieren. Dies geht am besten mit einem qualitativen Verfahren, mittels dessen sich biographische Verläufe mit all diesen Facetten dokumentieren lassen. Nur so kann sich abzeichnen, ob sich im Einzelfall tatsächlich der Einfluss von Netzwerken für die Richtung der biographischen Entwicklung als entscheidend herausgestellt hat oder ob es eben andere Prozesse oder Faktoren gewesen sind. Die Erforschung erfolgt auf der Grundlage der Angewandten Kriminologie, ergänzend kommen angepasste Tools der egozentrierten Netzwerkanalyse zum Einsatz. Mit Hilfe dieser wissenschaftlich fundierten und in der Praxis erprobten Instrumente können sowohl die potentiellen Einflüsse von Netzwerken als auch die anderen potentiellen Einflussfaktoren in ihrer ganzen Breite erfasst werden.
In einem Vergleichsgruppendesign sollen 2 x 15 Biographien junger Migranten untersucht werden. Die Teilnehmer des Projekts werden unter anderem nach dem Kriterium „erneute Haftstrafe nach einer Erstinhaftierung ja oder nein“ ausgewählt. Während die erste Gruppe („schwerer Rückfall“ – Gefahr von dauerhafter Exklusion) sich erneut in einer Justizvollzugsanstalt befindet und dort interviewt werden kann, ist die zweite Gruppe („mindestens drei Jahre nach der Entlassung kein schwerwiegender Rückfall“ – begründete Erwartung dauerhafter Inklusion) in Freiheit aufzusuchen. Eine Erweiterung um eine Gruppe von gar nicht straffällig gewordenen jugendlichen Migranten, die mit den gegenwärtigen Förderungsmitteln nicht geleistet werden kann, wäre wünschenswert. Zur Kontaktaufnahme mit möglichen Interviewpartnern kooperiert der Lehrstuhl mit einer Rechtsanwaltskanzlei, der Bewährungs- und ehrenamtlichen Straffälligenhilfe. Eine Kooperation mit verschiedenen Justizvollzugsanstalten konnte mit Unterstützung der Justizministerien von Rheinland-Pfalz und Hessen realisiert werden.
Ziel des Projekts ist eine Typologie erfolgreicher oder weniger erfolgreicher Verläufe mit praktischen Empfehlungen an die Kriminalpolitik, die Integrationspolitik sowie die Institutionen der Strafrechtspflege im weitesten Sinn.
Aktueller Forschungsstand
- Arbeit an der Gesamtauswertung
- Arbeit an einer Sonderauswertung zum Thema Schulden
- Durchführung eines zweiten Experiments zur Erhebung der Netzwerkdichte in egozentrierten Netzwerken
- Präsentation des Projekts auf Veranstaltungen für die interessierte Öffentlichkeit (etwa zum Tag der Forschung 2011, 2010, 2009 an der Universität Mainz oder dem Mainzer Wissenschaftsmarkt 2009)
- Vorstellung des Projekts auf Tagungen der Fachdisziplin (so u.a. zum Dt. Präventionstag 2010 oder der 11. Wissenschaftliche Fachtagung der Kriminologischen Gesellschaft 2009)
- Vorträge zu den Symposien 2011, 2010, 2009 des Interdisziplinären Arbeitskreises Armut und der Projekte des Teilbereichs I des Exzellenzclusters
- Durchführung eines Experiments zur Erhebung der Netzwerkdichte in egozentrierten Netzwerken
- fortlaufende Erhebung der Daten
- fortlaufende Eingabe und kriminologische Auswertung der Daten
- Genehmigung der Unterstützung durch die Justizministerien in Rheinland-Pfalz und Hessen; Kooperationen mit verschiedenen Justizvollzugsanstalten
- Kooperation mit einer Rechtsanwaltskanzlei, Bewährungshelfern und ehrenamtlicher Straffälligenhilfe
- Fertigstellung des Erhebungstools
- Genehmigung zur Durchführung des Projekts vom Datenschutzbeauftragten des Landes Rheinland-Pfalz eingeholt
- drei (mehrstündige) Pretests mit partizipativen Methoden zur Erhebung eines egozentrierten Netzwerks durchgeführt
- mehrere Tests zur Darstellung erhobener egozentrierter Netzwerke mit Hilfe der innerhalb des Exzellenzclusters entwickelten Software VennMaker (vgl. Projekt Ü.01 – Softwaretool VennMaker) durchgeführt
- Abschluss einer Explorationsstudie, bei der zehn biographische Interviews von jugendlichen Untersuchungsgefangenen mit Migrationshintergrund reanalysiert wurden
- Literatur- und Internetrecherche zu den Themen „Migration“, „Soziales Kapital“ und „Soziale Netzwerke“ durchgeführt
- Forschungskonzept und Organisationsdatenbank erstellt
- interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb des Exzellenzclusters, insbesondere durch Kooperationen mit den Projekten I.9 (Gesundheitsprävention bei Schulden und Armut) und I.10 (Entwicklung mentaler Modelle)
- Engagement innerhalb des interdisziplinären Arbeitskreises „Armut und Schulden“
- Umfassende Stellungnahme zum 12-Punkte-Plan zur Förderung der interdisziplinären Vernetzung der einzelnen Cluster-Projekte
Team
Projektleitung
Prof. Dr. Dr. Michael Bock
Forschungsteam – aktuelle Besetzung
Dipl.-Soz. Matthias Rau
Ass. iur. Saskia Koch
Ehemalige Mitarbeiter des Teams
Prof. Dr. Peter Münster
Ulrike Bartz
Dipl.-Päd. Julia Schuler
Tamara Großmann M.A.
Dorothee Horn
Publikationen
Publikationen mit thematischem Bezug zum Projekt von Mitgliedern des Forschungsteams
Zum Forschungsdesign
- Rau, Matthias: Integration von Strafgefangenen mit Migrationshintergrund. In: Kerner, Hans-Jürgen u. Marks, Erich (Hrsg.), Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover 2010, www.praeventionstag.de/html/GetDokumentation.cms?XID=525 (zuletzt abgerufen am 13.11.2012)
Zur Netzwerkthematik
- Rau, Matthias: Eine Einführung zur Bestimmung der Dichte in egozentrierten Netzwerken unter Berücksichtigung eines alternativen Erhebungsvorschlags. In: Gamper, Markus; Reschke, Linda; Schönhuth, Michael (Hrsg.): Knoten und Kanten 2.0. Soziale Netzwerkanalyse in Medienforschung und Kulturanthropologie. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 89-108
- Rau, Matthias: Soziale Netzwerke und ihr Beitrag zu Prozessen der Exklusion und Inklusion anhand von Biographien junger Migranten – ein Werkstattbericht. In: Bannenberg, Britta/Jehle, Jörg-Martin (Hrsg.), Gewaltdelinquenz. Lange Freiheitsentziehung. Delinquenzverläufe. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg 2011, S. 459-468
- Rau, Matthias: Die Bestimmung der Netzwerkdichte – Ein Beispiel zur Umsetzung anhand einer alternativen Erhebungseinheit. Dokumentation des Vortrags, gehalten auf der Tagung „Vom Papier zum Laptop“ des Exzellenzclusters vom 01.-02. Oktober 2010 an der Universität Trier. Veröffentlichung 2011, www.podcampus.de/nodes/3876 (zuletzt abgerufen am 13.11.2012)
- Münster, Peter: Integrierende Theorien und Ansätze. In: Göppinger, Hans: Kriminologie, München: Beck 2008, S. 180-209
- Münster, Peter: Das Konzept des reintegrative shaming von John Braithwaite. Kriminalsoziologische und praktische Bedeutung einer neuen alten Theorie der strafrechtlichen Sozialkontrolle; Berlin: Lit-Verlag 2006 (kriminologische Grundlagenarbeit zur Bedeutung sozialer Netzwerke und Bindungen für die (Re-)Integration von Straftätern)
Zum Instrumentarium der Angewandten Kriminologie
- Bock, Michael: Kriminologie. 4. Auflage, München: Vahlen 2013
- Bock, Michael: Die Zweite Moderne und die Angewandte Kriminologie. Zur Notwendigkeit einer neuen Verlaufsform. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2012 (6), S. 281-294
- Bock, Michael: Das Wiesbadener Verlaufsprojekt – Erste Ergebnisse einer kriminologischen Studie und Folgerungen für die jugendstrafrechtliche Praxis (Mainzer Runde 2011); Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz, Mainz 2011
- Bock, Michael: Entwicklungskriminologische Grundsätze und ihre Bedeutung für die Konfrontative Pädagogik. In: Weidner, Jens/Kilb, Rainer (Hrsg.): Handbuch Konfrontative Pädagogik. Grundlagen und Handlungsstrategien zum Umgang mit aggressivem und abweichendem Verhalten, Weinheim und München: Juventa Verlag 2011, S. 47-57
- Bock, Michael: Kriminaldiagnostik in der Angewandten Kriminologie und ihre Bezüge zur Konfrontativen Pädagogik. In: Weidner, Jens / Kilb, Rainer (Hrsg.): Handbuch Konfrontative Pädagogik. Grundlagen und Handlungsstrategien zum Umgang mit aggressivem und abweichendem Verhalten, Weinheim und München: Juventa Verlag 2011, S. 392-401
- Bock, Michael: Intensivtäter – Sicherheitsrisiko oder Sündenböcke? In: Der Kriminalist 2009, S. 28-30
- Bock, Michael: Angewandte Kriminologie für Sozialarbeiter. In: Sanders, Karin/Bock, Michael (Hrsg.): Kundenorientierung – Partizipation – Respekt. Neue Ansätze in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 101-133
- Bock, Michael/Schallert, Christoph: Erziehung im geschlossenen Jugendstrafvollzug. Das Wohngruppenkonzept KonTrakt in der JVA Wiesbaden. In: Sanders, Karin/Bock, Michael (Hrsg.): Kundenorientierung – Partizipation – Respekt. Neue Ansätze in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 239-277.
- Bock, Michael: Gibt es noch Platz für die Angewandte Kriminologie in der Gesamten Strafrechtswissenschaft? In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft – Band 121, 2/2009, S. 450–463
- Bock, Michael: Angewandte Kriminologie. In: Göppinger, Hans: Kriminologie, München: Beck 2008, S. 248-343
- Bock, Michael: Kriminologie. Für Studium und Praxis; 3. Auflage, München: Vahlen 2007
- Bock, Michael: Angewandte Kriminologie in der Interventionsplanung bei Straffälligen. In: Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie 2006, S. 58-85
- Bock, Michael: MIVEA als Hilfe für die Interventionsplanung im Jugendstrafverfahren. In: ZJJ 4/2006, S. 282-290
Zum interdisziplinären Arbeitskreis Armut und Schulden
- Rau, Matthias/Hoffmann, Anika/Bock, Michael: Private Schulden im Spiegel der Postmoderne – eine heuristische Betrachtung. In: Forschungscluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ (Hrsg.): Schulden und ihre Bewältung. Individuelle Belastungen und gesellschaftliche Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 155-200
- Rau, Matthias: Schuldenbewältigung trotz Knast? Exemplarische Zeitreihendaten aus dem Wiesbadener Verlaufsprojekt zur Schuldensituation von ehemaligen Strafgefangenen. In: Forschungscluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ (Hrsg.): Gesellschaftliche Teilhabe trotz Schulden? Perspektiven interdisziplinären Wissenstransfers. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 125-142
- Rau, Matthias: Die Verschuldung junger Menschen: Theoretische und empirische Betrachtungen zu einer anhaltenden Diskussion. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik (GWP) Jg. 60, Nr. 3/2011, S. 337-348
- Bock, Michael: Kriminalität in Krisen. Einige Anmerkungen zu späten Einstiegen in die Straffälligkeit. In: Hergenröder, Curt Wolfgang (Hrsg.): Krisen und Schulden. Historische Analysen und gegenwärtige Herausforderungen. Wiesbaden: VS-Verlag 2011, S. 63-79
- Rau, Matthias/Bender, Nina: Weg zur biographischen Autonomie oder Risiko? Plädoyer für eine differenzierte Sichtweise der Schulden junger Menschen. In: Unsere Jugend 11+12/2010, S. 493-502
- Bender, Nina/Rau, Matthias: Die finanzielle Handlungskompetenz von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Fokus der Exzellenzforschung. In: berufsbildung Heft 123, Juni/2010, S. 41-43
- Bock, Michael/Rau, Matthias: Finanzielle Verhältnisse als kriminologischer Indikator sozialer Einbindung. In: Hergenröder, Curt Wolfgang (Hrsg.) Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Vertrauens. Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 83-103
- Bock, Michael/Brettel, Hauke: Schulden und Kriminalität. In: Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht (8. Jahrgang, Sonderheft: „Schulden, Armut, Netzwerke: historische Zusammenhänge – gegenwärtige Herausforderungen“) 2009, S. 2-8
- Bock, Michael/Breuer, Klaus/Clemens, Gabriele et al.: Verschuldung und Zahlungsunfähigkeit von Privatpersonen als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. In: Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht 10/2007, S. 515-520
- Bock, Michael/Schneider, Hendrik: Plädoyer für ein personales Risikomanagement. In: Sparkasse 11/2003, S. 546-548
- Bock, Michael: Personales Risikomanagement in der Kriminalprävention von Spielbanken. – Vortrag in Bremen, 2003
- Bock, Michael: Grenzbereiche der Kreditvergabe aus kriminologischer Sicht. In: Sparkasse 05/2002, 229-231