III.02: Starke und schwache Netzwerke? Vergleichende Analyse sozialer Netzwerke mediterraner Arbeitsmigranten im westlichen Europa 1945-1980

Pro­jekt­be­schrei­bung

Pro­jekt­lei­tung: Prof. Dr. Lutz Ra­pha­el, Trier
Wiss. Mit­ar­bei­te­rin: lic. phil. Sarah Va­nes­sa Lo­se­go, Trier

In der Mon­t­an­re­gi­on Nord­ost­frank­reichs setz­te nach der Auf­bau­pha­se der un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit die An­wer­bung und Be­schäf­ti­gung ko­lo­nia­ler und aus­län­di­scher Ar­beits­kräf­te vor allem aus den west­li­chen Mit­tel­me­er­län­dern ein (Ita­li­en, Ma­rok­ko, Tu­ne­si­en…). In diese erste Phase der Zu­wan­de­rung vor dem An­wer­be­stopp Mitte der 1970er Jahre fie­len die For­mie­rung der nord­afri­ka­ni­schen po­li­ti­schen Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gun­gen, der Al­ge­ri­en­krieg, sowie die po­li­ti­sche Eman­zi­pa­ti­on der bei­den Pro­tek­to­ra­te Ma­rok­ko und Tu­ne­si­en und der fran­zö­si­schen Sied­ler­ko­lo­nie Al­ge­ri­en. Die Un­ter­su­chung wid­met sich zum einen der Kon­sti­tu­ie­rung und Aus­dif­fe­ren­zie­rung von halb­staat­li­chen und pri­va­ten Netz­wer­ken der Mi­gran­ten­be­treu­ung, und zum an­de­ren den For­men von in­for­mel­ler und for­mel­ler (po­li­ti­scher) Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on me­di­ter­ra­ner Ar­beits­mi­gran­ten und ihrer Fa­mi­li­en in den In­dus­trie­re­gio­nen Nord­ost­frank­reichs. Das Pro­jekt ist als re­gio­na­le Fall­stu­die aus der Mi­kro­per­spek­ti­ve an­ge­legt und ba­siert auf einem Ver­gleich zwi­schen ita­lie­ni­schen und nord­afri­ka­ni­schen Mi­gran­ten­grup­pen.

Ar­beits­stand

Die Ar­beit kon­zen­trier­te sich bis­lang auf die Ana­ly­se von halb­staat­li­chen Netz­wer­ken der Mi­gran­ten­be­treu­ung und von For­men der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der nord­afri­ka­ni­schen Mi­gran­ten in der loth­rin­gi­schen In­dus­trie­re­gi­on von Long­wy. Die Un­ter­su­chung der di­ver­sen Ein­rich­tun­gen und Trä­ger der Mi­gran­ten­be­treu­ung mach­te die große Be­deu­tung ein­zel­ner Per­sön­lich­kei­ten mit ihren in­di­vi­du­el­len so­zia­len Netz­wer­ken, sowie be­stimm­ter ge­sell­schaft­li­cher Mi­lieus für die Um­stän­de und die Art der Aus­ge­stal­tung der­ar­ti­ger In­itia­ti­ven deut­lich. Ein Groß­teil des ak­ti­ven Per­so­nals der ka­ri­ta­ti­ven Ver­ei­ne re­kru­tier­te sich aus Leu­ten, die aus un­ter­schied­li­chen Grün­den enge fa­mi­liä­re und / oder be­ruf­li­che Be­zie­hun­gen zu den nord­afri­ka­ni­schen dépar­te­ments un­ter­hiel­ten und beim Auf­bau der Be­treu­ungs­or­ga­ni­sa­tio­nen auf diese mul­ti­plen Ver­bin­dun­gen zu­rück­grei­fen konn­ten. Die Ak­teu­re die­ser Ver­ei­ne tra­fen in der Re­gi­on von Long­wy auf eine be­reits be­ste­hen­de Auf­sichts- und Be­treu­ungs­struk­tur, die in wei­ten Tei­len von der lo­ka­len Ar­beit­ge­ber­schaft vor­ge­ge­ben war und sich lang­fris­tig unter deren Kon­trol­le be­fand. Die Mo­no­pol­stel­lung der teil­wei­se un­ter­ein­an­der ko­ope­rie­ren­den Ar­beit­ge­ber­ver­bän­de in die­sem Feld zwang die Or­ga­ni­sa­tio­nen der Mi­gran­ten­be­treu­ung in der For­mu­lie­rung ihrer Ziele und der Pla­nung ihrer Ak­ti­vi­tä­ten zur Ko­ope­ra­ti­on, zur Aus­hand­lung und häu­fig zur Un­ter­ord­nung unter die (wirt­schaft­li­chen) Be­dürf­nis­se der lo­ka­len Ei­sen- und Stahl­werks­ge­sell­schaf­ten. Par­al­lel zur Aus­bil­dung eines Net­zes von In­sti­tu­tio­nen der Be­treu­ung und Kon­trol­le der Mi­gran­ten aus Nord­afri­ka ent­wi­ckel­ten sich Netz­wer­ke der Mi­gran­ten sel­ber. Die Stu­die legte das Au­gen­merk ins­be­son­de­re auf das Phä­no­men der Schaf­fung eines al­ter­na­ti­ven netz­werk­kon­for­men (Zwangs-)Ha­bi­tus im Kon­text der For­mie­rung der nord­afri­ka­ni­schen na­tio­na­lis­ti­schen Grup­pie­run­gen und der Durch­set­zung ihrer po­li­ti­schen und ge­sell­schafts­re­vo­lu­tio­nä­ren Ziele in­ner­halb der Grup­pe der al­ge­ri­schen und ma­rok­ka­ni­schen Ar­beits­mi­gran­ten. Dabei ge­rie­ten auch die Arten der Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen den po­li­ti­schen In­ter­es­sens­ver­bän­den der nord­afri­ka­ni­schen Ein­wan­de­rer und den fran­zö­si­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen zi­vil­ge­sell­schaft­li­cher In­ter­es­sen­ver­tre­tung und po­li­ti­scher Mo­bi­li­sie­rung in den Blick.

Per­spek­ti­ven

Die zwei bis­her ver­folg­ten Un­ter­su­chungs­ach­sen wer­den wei­ter­be­ar­bei­tet: Ers­tens, die lo­ka­le Aus­ge­stal­tung der Be­treu­ungs­agen­tu­ren für me­di­ter­ra­ne Ar­beits­mi­gran­ten. Die Un­ter­su­chung der Agen­tu­ren der Mi­gran­ten­be­treu­ung und ihrer di­ver­sen lo­ka­len, in­ter­re­gio­na­len und trans­na­tio­na­len Ver­bin­dun­gen soll sich nun auf die ita­lie­ni­sche Im­mi­gra­ti­on kon­zen­trie­ren. Die ad­mi­nis­tra­ti­ven, aber auch die ge­sell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen der Nie­der­las­sung ita­lie­ni­scher Mi­gran­ten in der Re­gi­on von Long­wy un­ter­schie­den sich deut­lich von der nord­afri­ka­ni­schen Kon­stel­la­ti­on. Mit ent­spre­chend kla­ren Dif­fe­ren­zen ist be­züg­lich der For­men ihrer Kon­trol­le und Be­treu­ung zu rech­nen. Zwei­tens, die (po­li­ti­schen) Mi­gran­ten­netz­wer­ke. Für die bei­den Grup­pen der Ita­lie­ner und der Nord­afri­ka­ner las­sen sich auf­grund der völ­lig un­ter­schied­li­chen po­li­ti­schen, wirt­schaft­li­chen usw. Be­zie­hun­gen, die ihr je­wei­li­ges Her­kunfts­land zu Frank­reich un­ter­hielt (ko­lo­nia­le Dif­fe­renz), be­züg­lich der Ge­ne­se, der Reich­wei­te, der Funk­tio­nen und der „Kon­junk­tu­ren“ der Mi­gran­ten­netz­wer­ke be­deu­ten­de Un­ter­schie­de ver­mu­ten. Viele der nord­afri­ka­ni­schen na­tio­na­lis­tisch-se­pa­ra­tis­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen ent­stan­den in der fran­zö­si­schen Emi­gra­ti­on und bau­ten auf in­for­mel­len Mi­gran­ten­netz­wer­ken mit ihren di­ver­sen in- und aus­län­di­schen, pri­va­ten und of­fi­zi­el­len Kon­tak­ten auf. Für die ita­lie­ni­sche Im­mi­gra­ti­on ist hin­ge­gen, zu­min­dest teil­wei­se, mit an­de­ren For­men der in­for­mel­len und for­mel­len (po­li­ti­schen) Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on zu rech­nen. Fest steht, dass die ita­lie­ni­schen Mi­gran­ten im Ge­gen­satz zu den Ein­wan­de­rern aus Nord­afri­ka nach dem Zwei­ten Welt­krieg weit­ge­hend in die lo­ka­len fran­zö­si­schen zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Or­ga­ni­sa­tio­nen, na­ment­lich die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei und die Ar­beit­neh­mer­ge­werk­schaf­ten ein­ge­bun­den waren und darin auch be­reits Füh­rungs­po­si­tio­nen über­nom­men hat­ten. Es kann ver­mu­tet wer­den, dass die ur­sprüng­lich hoch po­li­ti­schen Netz­wer­ke der ita­lie­ni­schen Mi­gran­ten der Zwi­schen­kriegs­zeit sich in der Nach­kriegs­zeit da­hin­ge­hend wan­del­ten, dass sie sich ent­we­der sel­ber über­leb­ten und sich also auf­lös­ten, oder sie an­de­re Auf­ga­ben und Funk­tio­nen in­ner­halb der Grup­pe der ita­lie­ni­schen Mi­gran­ten und ihrer zu­meist ein­ge­bür­ger­ten Nach­kom­men über­nah­men, etwa die Pfle­ge des kul­tu­rel­len Erbes der „ita­lia­nità” oder die ad­mi­nis­tra­ti­ve Un­ter­stüt­zung bei Be­hör­den­gän­gen.

(Stand: Juli 2008)

Kategorie Allgemein