Das Gespräch führte Carolin Retzlaff.
Marzena, du bist promovierte Mediävistin, arbeitest aber seit Jahren in der Bauforschung. Letztes Jahr bist du für das Projekt „Stadt in der Krise?“ wieder in die Forschung zurückgekehrt.
Ich arbeite seit fast zehn Jahren selbständig in der Bauforschung. Dafür untersuche ich Gebäude aus unterschiedlichen Zeiten. Nebenbei habe ich aber bei Prof. Lukas Clemens über das Städtische Bauwesen in Trier im späten Mittelalter promoviert. Die Grundlage für meine Arbeit waren die Städtischen Baumeister- und Rentmeisterei-Rechnungen ab dem Jahr 1370. Im Projekt „Stadt in der Krise?“ beschäftigen wir uns mit einer ähnlichen Zeit, nämlich mit den Jahren ab 1347. Das hat von den Quellen also schon zusammengepasst: Ich habe mich für meine Promotion mit dem städtischen Bauwesen beschäftigt und dabei sehr viele Informationen über die Stadttopographie erhalten. Und das Projekt „Stadt in der Krise?“ kann man durchaus als eine Art Erweiterung dazu sehen, denn hier handelt es sich um Privatbauten.
Wie sieht deine Arbeit in der Bauforschung aus?
Die Bauforschung ist eine Disziplin, in der man überwiegend – aber nicht ausschließlich – Gebäude, die unter Denkmalschutz stehen, untersucht und dokumentiert. Normalerweise passiert das im Kontext späterer Umbauten oder Sanierungsmaßnahmen. Dafür benötigt man eine Grundlage, um zu entscheiden: Wie ist der historische Bestand? Wie sah das Gebäude ursprünglich aus? Wie waren die Funktionen? Wie hat sich das Gebäude im Laufe der Zeit verändert? Das ist für die Besitzer oder für Architekten, die sich mit dem Gebäude befassen, interessant, denn man kann dann entscheiden, was man hervorheben oder rekonstruieren will. Ich frage also: Wie verlief die Geschichte dieses Hauses? Meine Arbeit besteht dann aus zwei Teilen: Zunächst gibt es eine Untersuchung vor Ort, bei der ich die Bausubstanz aus dem kunsthistorischen Blickwinkel und aus bauhistorischen Gesichtspunkten untersuche. Der zweite Teil der Arbeit ist dann die Recherche in Archiven: Hier suche ich nach Bildmaterial, nach Katasterplänen und recherchiere nach weiteren Dokumenten wie beispielsweise Urkunden. All diese Informationen werte ich anschließend aus. Gemeinsam mit den Ergebnissen, die ich vor Ort festhalten konnte, entsteht dann meist ein recht detailliertes Bild von dem Gebäude im ursprünglichen Zustand sowie den Veränderungen, die im Laufe der Zeit vorgenommen wurden.
Wie bist du zu deiner Tätigkeit in der Bauforschung gekommen?
Ich habe Geschichte studiert, hatte aber immer auch Interesse an praktischer Arbeit. Deshalb habe ich ein einjähriges Praktikum in einer Restaurierungswerkstatt gemacht, wo ich gelernt habe, mit historischen Techniken zu arbeiten. Anschließend habe ich dann in Trier den Aufbaustudiengang „Bauforschung und Denkmalpflege“ gemacht. Dann habe ich die Zusammenarbeit mit dem Restaurator Thomas Lutgen begonnen. Dabei habe ich das Wissen über die historische Materialien und Bautechniken vertieft. Die Archivrecherche kannte ich ja schon vom Studium – und bei der praktischen Arbeit ist wirklich viel auch von Erfahrung abhängig. Es gibt aber auch vielfältige Fachliteratur. Außerdem bin ich Mitglied im Arbeitskreis für Hausforschung – das ist sehr hilfreich, weil sich Bauforscher dort regelmäßig austauschen können.
Jetzt hast du deine Forschungsarbeit also wieder aufgenommen und arbeitest für „Stadt in der Krise?“ mit dem lange verschollenen „Verkaufs-, Hypotheken- und Zinsregister“ der Stadt Trier, das Dr. Christoph Cluse nach mehrjähriger Recherche in einem Bonner Archiv wiedergefunden hat.
Kannst du erklären, was die Arbeit mit einem Zinsregister so spannend macht?
Zinsregister sind sehr spannend! Sie dokumentieren normalerweise die Verträge zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern. In Ausnahmen enthalten sie auch Schenkungen oder Kaufverträge. Als Hypothek wurde meistens ein Haus oder eine Wirtschaftsanlage wie eine Mühle oder eine Bäckerei, aber auch Felder oder Weingärten vergeben. Im Vertrag wurde diese Hypothek dann genau beschrieben und das liefert uns enorm viele wertvolle Informationen. Ein Beispiel: Everhard von den Juden schenkt einen Zins aus seinem Haus an das Klarissenkloster in Echternach. Dieses Haus wird dann genau bezeichnet: Es handelt sich um das Haus zu dem Goldenen Kessel, es befindet sich in der Brückenstraße. Daneben ist das Haus zu dem Juden und auf der anderen Seite schließt das Rote Haus an. Wenn man all diese einzelnen Einträge in eine Datenbank eingibt, kann man sie letztendlich verknüpfen. Dann hat man die Möglichkeit, die Häuser, die wir aus anderen Quellen kennen, zu lokalisieren und die Stadttopographie, so wie wir sie bis jetzt aus dem Ende des 14. Jahrhunderts kennen, ergänzen. Wir sammeln also direkte Kenntnisse über die Häuser, Straßenzüge, über die Benennungen, aber auch die Dichte der Bebauung. Wo haben die Patrizier im Trier des 14. Jahrhunderts gewohnt? Wo waren die Weingärten? Wo waren verstärkt wirtschaftliche Einrichtungen?
Gibt das Zinsregister auch Aufschluss über die involvierten Personen?
Ja, denn wir beschäftigen uns ja mit Krediten, das heißt, wir können ahnen in welcher wirtschaftlichen Lage sich die Familien befanden. Wenn jemand im Stande war, 200 Pfund zu leihen, können wir daraus schließen: Zunächst einmal ist diese Person kreditwürdig, aber wir können auch davon ausgehen, dass er größere anstehende Ausgaben hatte. Wenn man diese Informationen auf die Karte von Trier überträgt, dann kann man auch sehen, wo die vermögenden Trierer zu dieser Zeit gewohnt haben – und im Gegenzug auch nachvollziehen, wo die sozial schwachen Einwohner lebten, denn die kommen in solch einer Quelle nicht vor. Außerdem liefert das Zinsregister viel Aufschluss über die geistlichen Institutionen, die häufig als Kreditgeber auftraten. Das liefert interessante Details über den Einflussbereich dieser Einrichtungen: Wer wurde von Bewohnern bevorzugt als Kreditgeber gewählt? Wandte man sich eher an die Bettelorden oder Pfarrkirchen? Oder eben die großen Abteien in Mettlach oder Himmerod? Auch das weitere Vorgehen der kirchlichen Institutionen wird aus dem Register deutlich: Fanden die finanziellen Geschäfte eher in der Nähe statt oder waren sie im weiteren städtischen oder regionalen Bereich involviert?
Gibt es bereits Überraschungen, die das bisherige Bild vom Trier des 14. Jahrhunderts berichtigen?
Ja, es gibt schon viele Überraschungen! Zum Beispiel vermutete man, dass die Juden stark im Kreditgeschäft tätig waren – das ist aber von unserem momentanen Auswertungsstand gar nicht zutreffend. Bisher erscheinen die Juden in diesen Quellen als Kreditnehmer oder Käufer von Stadthäusern, nicht aber als Kreditgeber. Interessant ist auch, wenn Gebäude, die wir bereits aus anderen Quellen kennen, zum ersten Mal erwähnt werden. Zum Beispiel wussten wir, dass es eine Münzstätte in der Nähe des Palastes gab – ein „Haus zur Münze“ –, aber in den Quellen haben wir eine frühere, vielleicht eine der ersten Erwähnungen gefunden, die nun helfen wird, die Stätte näher zu lokalisieren.
Du erarbeitest dir aus den Quellen also nicht nur topografische, sondern auch prosopographische und stadt- und regionalhistorische Erkenntnisse. Wie kann man diese vielfältigen Informationen sinnvoll und übersichtlich sammeln?
Wir wollen diese Informationen alle in einer Datenbank festhalten: Parallel zum Auswertungsprozess der Quellen planen wir gerade im Team, wie man eine Datenbank so konzipieren kann, dass auch Wissenschaftler mit anderen Fragestellungen zukünftig Zugang zu diesen Daten haben können. Wenn eine Forscherin zum Beispiel Interesse an der Pfarrei St. Gangolf hat, soll sie in unserer Datenbank einfach zu den relevanten Daten aus den von uns ausgewerteten Quellen gelangen. Gerade sind wir also dabei, die Kriterien für diese Datenbank zu erstellen. Außerdem wollen wir die Ergebnisse visualisieren und in einer digitalen dynamischen Karte im Internet festhalten. Durch die Datenbank und die Karte wird es dann möglich, dass Wissenschaftler, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen, unsere Daten nutzen können.
Auf welche Krise spielt der Projekttitel an?
Im Jahr 1347 brach in Europa die Pest aus. Diese große Katastrophe wurde von weiteren Krisen begleitet. Bereits in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts litten die europäischen Länder unter Missernten und Hungersnöten. Die Wirtschaft erlebte dabei einen Wandel, wobei die Geldwirtschaft neben der Landwirtschaft eine immer größere Rolle übernahm. Die Menschen zogen in die Städte. Die wachsende Bevölkerungsdichte begünstigte zwar den Reichtum, brachte aber auch große Armut. Die große Sterblichkeit infolge der Pest veränderte die wirtschaftlichen Voraussetzungen: Die Lebensmittelpreise fielen, die Löhne dagegen stiegen. Deswegen stellen wir uns die Frage, inwieweit diese Veränderungen in Trier erkennbar sind, denn die Zahl und Höhe der Kredite und Verkäufer spiegelt die wirtschaftliche Lage der Stadtbewohner wider. Bisher scheint es aber, dass Trier in dieser Zeit von einer großen Krise verschont blieb.
Das Projekt „Stadt in der Krise?“ wird von Prof. Dr. Lukas Clemens und Prof. Dr. Stephan Laux geleitet und von der Gerda-Henkel-Stiftung finanziert. Hier finden Sie Details zu Dr. Marzena Kesslers Publikation „Das städtische Bauwesen in Trier am Ende des Mittelalters (1370–1520)“.