II.02: Zwischen religiöser Toleranz und Ausgrenzung: Christlich-muslimische Netzwerke im Königreich Sizilien während des 12. und 13. Jahrhunderts

Pro­jekt­be­schrei­bung

Das Pro­jekt un­ter­sucht die Be­zie­hun­gen zwi­schen la­tei­ni­schen Chris­ten und den Mus­li­men im Reg­num Si­ci­liae unter den Nor­man­nen bzw. ihren stau­fi­schen und an­gio­vi­ni­schen Nach­fol­gern auf dem Kö­nigs­thron. In die­sem Zu­sam­men­hang wer­den die viel­fäl­ti­gen For­men der Kol­la­bo­ra­ti­on in Netz­wer­ken zwi­schen den Be­völ­ke­rungs­grup­pen bei­der Re­li­gio­nen auf un­ter­schied­li­chen Kon­takt­ebe­nen vor dem Hin­ter­grund der je­wei­li­gen po­li­ti­schen, re­li­giö­sen und kul­tu­rel­len Rah­men­be­din­gun­gen eben­so auf­ge­zeigt, wie immer wie­der zu kon­sta­tie­ren­de Brü­che in die­sem so fra­gi­len Ver­hält­nis.

Ar­beits­stand

In dem bis­lang le­dig­lich mit stu­den­ti­schen Hilfs­kräf­ten ar­bei­ten­den Pro­jekt er­folg­te eine Zu­sam­men­stel­lung des um­fang­rei­chen ge­druck­ten Quel­len­ma­te­ri­als und der zum Teil ent­le­gen pu­bli­zier­ten re­le­van­ten Se­kun­där­li­te­ra­tur. Dar­über hin­aus wur­den die ur­kund­li­chen Quel­len und den herr­schaft­li­chen Rech­nungs­le­gun­gen zu ent­neh­men­den Ein­trä­ge zur Sa­ra­ze­nen­ko­lo­nie in Lu­cera mit Hilfe des Da­ten­ver­ar­bei­tungs­pro­gramms Kleio auf­ge­nom­men, um somit die Ver­knüp­fung von Kon­tak­ten und Rechts­ge­schäf­ten auf­zu­zei­gen sowie Hand­lungs­mus­ter und Netz­werk­be­zie­hun­gen dar­zu­stel­len und er­klä­ren zu kön­nen. Die Ko­lo­nie von Lu­cera setz­te sich vor­nehm­lich aus auf­stän­di­schen Mus­li­men aus Si­zi­li­en zu­sam­men, die Fried­rich II. seit den 20er Jah­ren des 13. Jahr­hun­derts nach Nord­a­pu­li­en de­por­tier­te. Der Ge­mein­schaft aus rund 15-20.000 wehr­fä­hi­gen Mus­li­men mit ihren Fa­mi­li­en wurde eine ei­ge­ne Selbst­ver­wal­tung und die Re­li­gi­ons­frei­heit gegen die Stel­lung von mi­li­tä­ri­schen Kon­tin­gen­ten und hohen Steu­er­leis­tun­gen zu­ge­bil­ligt. Unter König Karl II. von Anjou – gegen den die Mus­li­me von Lu­cera re­bel­liert hat­ten – er­folg­te im Jahr 1300 die Zer­stö­rung der Ko­lo­nie und die Ver­skla­vung ihrer Be­woh­ner. Ins­ge­samt rund 900 re­le­van­te Da­ten­ein­trä­ge wur­den bis­lang zu Lu­cera auf­be­rei­tet. Auf ihrer Grund­la­ge zeich­nen sich be­reits jetzt wich­ti­ge Er­geb­nis­se ab: So herrsch­te unter den Mus­li­men eine große so­zia­le Dif­fe­renz. Einer klei­nen Elite aus mi­li­tä­ri­schen und re­li­giö­sen An­füh­rern, aber auch No­ta­ren und Ärz­ten stand die große Zahl von Krie­ger­bau­ern ge­gen­über; zur Mit­tel­schicht ge­hör­ten die Hand­wer­ker un­ter­schied­li­cher nach­ge­wie­se­ner Be­ru­fe. Die Haupt­mög­lich­keit des so­zia­len Auf­stiegs bot aber der Kriegs­dienst. Au­ßen­po­li­ti­sche Be­zie­hun­gen der mus­li­mi­schen Ko­lo­nie sind u.a. durch die An­we­sen­heit mus­li­mi­scher Di­plo­ma­ten aus Tunis oder Ägyp­ten be­zeugt. Hin­wei­se auf die Zu­sam­men­ar­beit von Chris­ten und Mus­li­men sind zahl­reich und be­schrän­ken sich nicht nur auf mi­li­tä­ri­sche Ak­tio­nen. Sie re­pa­rier­ten ge­mein­sam die Stadt­be­fes­ti­gun­gen von Lu­cera und trie­ben Han­del mit­ein­an­der. U.a. ver­kauf­ten mus­li­mi­sche Kauf­leu­te exo­ti­sche Tiere, wie Leo­par­den an christ­li­che Ad­li­ge. Mus­li­mi­sche Rit­ter tra­ten fer­ner als Kre­dit­ge­ber für Chris­ten auf, er­war­ben von ihnen Lie­gen­schaf­ten und leb­ten auch in Orten au­ßer­halb der Ko­lo­nie Tür an Tür mit Chris­ten. Ge­richts­pro­to­kol­le er­lau­ben Ein­sich­ten in Strei­tig­kei­ten zwi­schen Mit­glie­dern bei­der Ge­mein­schaf­ten. Fer­ner be­kun­de­ten mus­li­mi­sche No­ta­re Rechts­ge­schäf­te von Chris­ten etc. Die Quel­len er­lau­ben die Re­kon­struk­ti­on ver­wandt­schaft­li­cher Be­zie­hun­gen unter den füh­ren­den Rit­ter­fa­mi­li­en der Sa­ra­ze­nen und die Iden­ti­fi­zie­rung und so­zia­le Ein­ord­nung ihrer christ­li­chen Ge­schäfts­part­ner und Funk­ti­ons­trä­ger in der Zi­vil- und Mi­li­tär­ver­wal­tung. Ein­zel­ne mus­li­mi­sche Ad­li­ge konn­ten auch in der Ver­wal­tung wich­ti­ge Ämter über­neh­men, wie bei­spiels­wei­se das Amt des ca­pi­ta­no von Lu­cera, das vor­nehm­lich Chris­ten aus­üb­ten, aber zeit­wei­lig auch von sa­ra­ze­ni­schen Rit­tern be­klei­det wurde. Wich­tig ist dar­über hin­aus die Ver­mitt­ler­rol­le von zum Chris­ten­tum kon­ver­tier­ten Sa­ra­ze­nen.

Per­spek­ti­ven

Die Li­te­ra­tur- und Quel­len­re­cher­che sowie erste Aus­wer­tun­gen haben ge­zeigt, daß die Über­lie­fe­rung zu Fra­gen der Netz­werk­be­zie­hun­gen zwi­schen Chris­ten und Mus­li­men im Kö­nig­reich Si­zi­li­en äu­ßerst er­gie­big ist. Mit Herrn Ri­chard Engl konn­te nun ein Mit­ar­bei­ter ge­won­nen wer­den, der im Rah­men eines Pro­mo­ti­ons­sti­pen­di­ums diese The­ma­tik be­ar­bei­ten wird, nach­dem er an der Lud­wig Ma­xi­mi­li­an-Uni­ver­si­tät Mün­chen seine Staats­ex­amen­ar­beit zur Pi­sa­ner Chro­nis­tik wäh­rend des Hoch­mit­tel­al­ters fer­tig ge­stellt hat. Auf­grund sei­ner Be­ar­bei­tung eines ita­lie­ni­schen The­mas des Mit­tel­al­ters und län­ge­rer Ita­li­en­auf­ent­hal­te, dar­un­ter am DHI Rom, bringt er beste Vor­aus­set­zun­gen für die Be­ar­bei­tung die­ses an­spruchs­vol­len Vor­ha­bens mit. Herr Engl wird nicht nur die Fall­stu­die Lu­cera be­ar­bei­ten, son­dern dar­über hin­aus in wei­te­ren Fall­stu­di­en christ­lich-mus­li­mi­sche Netz­wer­ke im Kö­nig­reich Si­zi­li­en in den Blick neh­men. So soll er die so­zia­len Be­zie­hun­gen von Chris­ten und Mus­li­men und ihre struk­tur­bil­den­den Wir­kun­gen in­ner­halb der Grund­herr­schaft des be­deu­tends­ten si­zi­lia­ni­schen Klos­ters Mon­rea­le süd­west­lich von Pa­ler­mo be­rück­sich­ti­gen, wo er auf eine eben­falls aus­ge­zeich­ne­te Quel­len­grund­la­ge zu­rück­grei­fen kann. Hier bil­de­ten wäh­rend des 12. und zu Be­ginn des 13. Jahr­hun­derts die Mus­li­me die Mehr­heit der ab­hän­gi­gen Be­völ­ke­rung. Die Funk­ti­on der Be­zie­hungs­ge­flech­te zwi­schen Chris­ten und Mus­li­men ist evi­dent: Es ging im Rah­men be­ding­ter To­le­ranz ge­gen­über den An­ders­gläu­bi­gen um die län­ger­fris­ti­ge Si­che­rung von Herr­schafts­struk­tu­ren und zu­gleich um die Be­wäl­ti­gung prag­ma­ti­scher All­tags­pro­ble­me mit einer mehr­heit­lich mus­li­mi­schen Be­völ­ke­rung, wel­che die Er­trä­ge der Grund­wirt­schaft zu er­brin­gen hatte. Hier sind Ko­ope­ra­ti­ons­mög­lich­kei­ten zwi­schen den neuen Grund­her­ren und ihren Funk­ti­ons­trä­gern ei­ner­seits und einer be­reits vor der nor­man­ni­schen Er­obe­rung das Land be­wirt­schaf­ten­den Be­völ­ke­rung an­de­rer­seits her­aus­zu­ar­bei­ten. Zudem soll das Ver­hält­nis zwi­schen Chris­ten und Ara­bern in Pa­ler­mo the­ma­ti­siert und u.a. nach der Rolle von Mus­li­men als Spe­zia­lis­ten in der kö­nig­li­chen Ver­wal­tung, aber auch als Ärzte und Wis­sen­schaft­ler ge­fragt wer­den. Ein wei­te­rer Schwer­punkt gilt der Rolle der Mo­za­ra­ber, jener zum Chris­ten­tum kon­ver­tier­ten Mus­li­me als Ver­mitt­ler zwi­schen bei­den Re­li­gio­nen und Kul­tu­ren. Schließ­lich soll die Si­tua­ti­on zwi­schen Chris­ten und Mus­li­men nach der im Jahr 1300 er­folg­ten Zer­schla­gung der Ko­lo­nie von Lu­cera in den Blick ge­nom­men wer­den. So zeich­net sich hier be­reits jetzt ab, daß Mus­li­me im Rah­men ihrer Über­le­bens­stra­te­gi­en vor­ma­lig ge­bil­de­te Netz­wer­ke nut­zen konn­ten. Ei­ner­seits, um nach einer Kon­ver­si­on zum Chris­ten­tum auch wei­ter­hin er­folg­reich als Mi­li­tärs, Grund­be­sit­zer oder Kauf­leu­te zu wir­ken, an­de­rer­seits, indem sie als Skla­ven von mit ihnen be­kann­ten wohl­ha­ben­den Mus­li­men oder aber auch Chris­ten ge­kauft, und an­schlie­ßend frei­ge­las­sen wur­den.

(Stand Juli 2008)

Team

Pro­jekt­lei­ter

Prof. Dr. Lukas Cle­mens

Mit­ar­bei­ter

Ri­chard Engl

Stu­den­ti­sche Hilfs­kraft

Den­nis Schwin­nen

Publikationen

  • Cle­mens, Lukas/Ma­theus, Micha­el. Chris­ten und Mus­li­me in der Ca­pi­ta­na­ta im 13. Jahr­hun­dert. Eine Pro­jekt­skiz­ze. In: Quel­len und For­schun­gen aus ita­lie­ni­schen Ar­chi­ven und Bi­blio­the­ken 88 (2008), S. 82-118.
  • Engl, Ri­chard. Sa­fran, Schach und Son­der­steu­ern. Ara­bisch-mus­li­mi­sche Le­bens­for­men im Kö­nig­reich Si­zi­li­en. In: Die Stau­fer und Ita­li­en. Drei In­no­va­ti­ons­re­gio­nen im mit­tel­al­ter­li­chen Eu­ro­pa, Bd. 1: Es­says, hg. von Al­fried Wie­czo­rek, Bernd Schneid­mül­ler, Ste­fan Wein­fur­ter, Darm­stadt 2010, S. 332-340.
  • Engl, Ri­chard. Das Ende der Mus­li­me im spät­mit­tel­al­ter­li­chen Süd­ita­li­en. Netz­werkana­ly­ti­sche Über­le­gun­gen zu einer hun­dert­jäh­ri­gen For­schungs­fra­ge. In: Sam­mel­band zur Ta­gung Re­li­giö­se Dif­fe­renz und in­ter­kon­fes­sio­nel­le Ko­ope­ra­ti­on, Trier 24. – 25. Juni 2010 (in Vor­be­rei­tung).
  • Engl, Ri­chard. Die De­por­ta­ti­on der Mus­li­me Si­zi­li­ens durch Kai­ser Fried­rich II., in: Sam­mel­band zur Ring­vor­le­sung „Zwangs­mi­gra­ti­on. Ein glo­ba­les Phä­no­men und seine Deu­tung“, Wien, Win­ter­se­mes­ter 2012/13 (in Vor­be­rei­tung)
  • Engl, Ri­chard. ‚Abd al-‚Aziz von Lu­cera († 1301): Auf­stieg und Fall eines mus­li­mi­schen Rit­ters im Kö­nig­reich Si­zi­li­en, in: Sam­mel­band zur Ta­gung „Chris­ten und Mus­li­me in der Ca­pi­ta­na­ta im 13. Jahr­hun­dert – Cris­tia­ni e musul­ma­ni in Ca­pi­ta­na­ta nel XIII se­co­lo“, Rom 16.-18. Mai 2012 (in Vor­be­rei­tung).
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