Eine neue Perspektive auf die deutsche Nationalstaatsgründung: Das preußische Königspaar Wilhelm I. und Augusta zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1857-1871). Eine digitale Edition

Kaiserin Augusta und Kaiser Wilhelm I. auf einer Spazierfahrt in Koblenz im Sommer 1885

Das preußische Königs- und deutsche Kaiserpaar Wilhelm I. (1797–1888) und Augusta (1811–1890) steht bis heute im Schatten des „Eisernen Kanzlers“ Otto von Bismarck. Sowohl seitens der Forschung als auch der Öffentlichkeit wurde und wird ihnen eine marginale historische Rolle zugeschrieben. Dass bis heute mit Blick auf die preußische und deutsche Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer „Ära Bismarck“ oder gar einem „Bismarckreich“ gesprochen wird, ist in nicht unerheblichem Maße eine Konsequenz einseitiger Quellenarbeit. Während die „Gedanken und Erinnerungen“ neben mehreren Editionen der „Gesammelten Werke“ des ersten deutschen Reichskanzlers sowie anderen „Bismarckquellen“ griffbereit in allen Bibliotheken stehen, und zudem auch in nicht unerheblichem Maße online verfügbar sind, liegt ein vergleichbares Quellenkorpus für Wilhelm I. und Augusta nicht vor.

Das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Jahre 2023 bis 2027 geförderte Forschungsprojekt „Eine neue Perspektive auf die deutsche Nationalstaatsgründung: Das preußische Königspaar Wilhelm I. und Augusta zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1857–1871). Eine digitale Edition“ soll diese Problematik beheben. Unter der Projektleitung von Prof. Dr. Christian Jansen und begleitet von einem Gremium internationaler wissenschaftlicher Beraterinnen und Berater wird die umfangreiche archivalische Korrespondenz des Monarchenpaares erstmals wissenschaftlich ediert. Insgesamt sollen die etwa 2.500 Briefe, die sich Wilhelm I. und Augusta zwischen dem Beginn der sogenannten Neuen Ära in Preußen 1857 und der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 schrieben, vollständig transkribiert, wissenschaftlich kommentiert und auf einer Online-Plattform zusammen mit den digitalisierten Originalarchivalien der Forschung und Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die zeitintensive Transkription der handschriftlichen Briefe wird dabei durch das KI-gestützte Programm Transkribus unterstützt. Auch sollen die edierten Quellen im Rahmen der Projektlaufzeit in Form von verschiedenen Publikationen, Vorträgen und wissenschaftlichen Veranstaltungen ausgewertet, und die daraus resultierenden neuen Forschungsperspektiven einem breiteren Publikum vorgestellt werden.

Wilhelm I. an Augusta, 23. September 1862

Eine Geschichte von Reichsgründung und Kaiserreich kann nicht ohne Wilhelm I. und Augusta geschrieben werden, die beide etwa dreißig Jahre im Machtzentrum der Hohenzollernmonarchie standen. Das aktuelle rege wissenschaftliche wie öffentliche Interesse an der Geschichte des deutschen Kaiserreichs und der Hohenzollerndynastie demonstriert die ungebrochene Brisanz des Themenkomplexes. Das Editionsprojekt trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die Diskussion über den historischen Ort des ersten deutschen Nationalstaats nicht auf das Neuinterpretieren bereits bekannter Quellen und Darstellungen beschränken muss, sondern durch bislang unbekanntes Material neue Impulse, Fragestellungen und Forschungsfelder finden kann.

Mit der Erkrankung und Regierungsunfähigkeit seines älteren Bruders König Friedrich Wilhelm IV. im Oktober 1857 und rückte Wilhelm I. – und mit ihm seine Ehefrau Augusta als Einflussakteurin – in das politische Zentrum der Hohenzollernmonarchie. Die folgenden knapp 14 Jahre bis zum Ende des Deutsch-Französischen Krieges und der Rückkehr des neuproklamierten Deutschen Kaisers nach Berlin im März 1871 können als die politisch aktivsten und einflussreichsten Jahre des Monarchenpaares charakterisiert werden. Bis zur Reichsgründung griff der Herrscher systematisch in tagespolitische Entscheidungsfragen ein. Erst der nationalstaatliche Konstituierungsprozess zementierte das Vertrauensverhältnis von Wilhelm I. und Bismarck als strukturelle Entscheidungsachse der Berliner Politik. Seit Mitte der 1870er Jahre war Augusta aufgrund gesundheitlicher Probleme gezwungen, ihre Briefe zu diktieren – die Einbeziehung dritter Personen in den ehelichen Kommunikationskanal veränderte den Briewechsel, so dass März 1871 ein geeigneter Endpunkt für das derzeitige Projekt ist. Falls finanzierbar, wäre jedoch eine Edition des gesamten Briefwechsels der Jahre 1829 bis 1888 sinnvoll und wissenschaftlich gewinnbringend.

Die insgesamt fast sechs Jahrzehnte umspannende Korrespondenz Wilhelms I. und Augustas ist eine zentrale, einzigartige, aber weitgehend unbekannte Quelle der preußisch-deutschen Monarchie- und Politikgeschichte. Verglichen mit den überlieferten Briefwechseln anderer Monarchenpaare des 19. Jahrhunderts stellt die Korrespondenz der beiden aufgrund ihres Umfangs und ihrer durchgängigen politischen Substanz ein Unikum dar. Sie erlaubt beispielsweise eine neue Kontextualisierung und Rekonstruktion des bis heute kontrovers diskutierten Modernisierungs- und Parlamentarisierungspotentials der Hohenzollernmonarchie. Auch wirft der Briefwechsel neue Schlaglichter auf den Nationalstaatsgründungsprozess. Anhand dieser Korrespondenz kann rekonstruiert werden, wie das Monarchenpaar die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche ihrer Zeit reflektierte, und wie es in diese intervenierte. Dabei zeigt sich, dass Wilhelm I. eine weitaus aktivere und einflussreichere politische Rolle spielte als bislang bekannt. Augusta dagegen bewegte sich als dezidiert politische Akteurin außerhalb der misogyn-restriktiv definierten weiblichen Interessens- und Handlungsgrenzen des 19. Jahrhunderts. Ihren indirekten politischen Einfluss belegt der Briefwechsel auf vielfältige Weise.

Augusta an Wilhelm I., 27. September 1862

Beide Ehepartner waren häufig unterschiedlicher politischer Ansicht. In ihrer Korrespondenz entfalten sich daher seitenlange Debatten, Aneinanderreihungen von Argumenten und Ausführungen, die wiederum in Antworten durch detaillierte Denkschriften gekontert, und durch Briefbeigaben (Zeitungsausschnitte, Zitate aus Briefen Dritter etc.) fundiert werden. Waren beide bereits durch Kuraufenthalte und Herrschereisen oft voneinander getrennt, verbrachten Wilhelm I. und Augusta ab den 1860er Jahren lediglich die Wintermonate gemeinsam in Berlin, und sahen sich sonst nur an wenigen Wochen des Jahres. Der Briefwechsel nahm daher einen zentralen Stellenwert als Kommunikationsmittel ein – das Monarchenpaar tauschte sich mehrmals wöchentlich, bisweilen sogar täglich über aktuelle Themen aus.

Die im Rahmen des Forschungsprojekts edierten vollständigen Briefe inklusiver der oft wichtigen Beigaben ermöglichen einerseits neue Perspektiven auf Schlüsselereignisse der preußischen und deutschen Politik der Reichsgründungszeit, indem sie Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse auf Allerhöchster Politik- und Gesellschaftsebene detailliert abbilden sowie alternative Handlungsoptionen präsentieren. Andererseits erlaubt der eheliche Briefwechsel die Grenzen, Möglichkeiten und Erfahrungshorizonte weiblicher Politikakteurinnen des 19. Jahrhunderts auszuloten, und die Analyse wie Dekonstruktion zeitgenössischer Geschlechterrollen, in denen sich primär Augusta, aber auch Wilhelm I. bewegten.


Das Projekt basiert auf umfangreichen Recherchen und Vorarbeiten im Rahmen der Dissertationen des Bearbeiters Jan Markert („Wer Deutschland regieren will, der muß es sich erobern.“ Wilhelm I. und die Hohenzollernmonarchie 1840–1866. Eine biographische Studie, Diss. phil. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2022) und der inzwischen an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften arbeitenden Susanne Bauer (Die Briefkommunikation der Kaiserin Augusta (1811–1890). Briefpraxis, Briefnetzwerk, Handlungsspielräume, Diss. phil. Universität Trier 2022).

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