Teilprojekt B 4: Armut und Armenpolitik in europäischen Städten im 19. und 20. Jahrhundert

Das Teilprojekt untersucht mittels lokaler und regionaler Fallstudien die Lebensformen von Armen, die Praktiken der Armenpolitik sowie die variablen Deutungsmuster von Armut und Wohl-tätigkeit in städtischen Gesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Während in der zweiten Förderphase der Fokus auf den spezifischen Problem-gruppen der armen Geisteskranken und der Bettler / Landstreicher lag, wird in der abschließenden dritten Phase die Wahrnehmung von und der Umgang mit armen Kindern ins Zentrum rücken. Zudem werden die bisherigen Fallstudien vergleichend in den europäischen Kon-text eingeordnet.

Projektleitung:
Prof. Dr. Andreas Gestrich
Prof. Dr. Lutz Raphael

Projektlaufzeit: 2002-2012
Fachgebiet: Neuere / Neueste Geschichte

Projektbeschreibung

Das Teilprojekt beschäftigt sich mit den Lebenslagen und Lebensformen von Armen, den wechselnden Praktiken der Armenunterstützung und Armutsbekämpfung sowie den Deutungsmustern von Armut und Wohltätigkeit in westeuropäischen Städten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Dieser Zeitraum war geprägt von strukturellen Umbrüchen hinsichtlich der Armutsrisiken, der Möglichkeiten individueller Daseinsvorsorge und der Zuständigkeiten von Kommunen und Staat. Die Herausbildung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war eine Reaktion in erster Linie auf städtisch-industrielle Problemlagen. Diese veränderten und erweiterten aber auch und zunächst das Aufgabenspektrum der kommunalen Wohlfahrtspflege. Die großstädtischen Leistungsverwaltungen nahmen in mancher Hinsicht den Wohlfahrtsstaat vorweg.

Trotz dieser Entwicklungslinien gab es Kontinuitäten und gegenläufige Tendenzen, die bei der Konzentration auf die Institutionalisierung der öffentlichen Sozialpolitik häufig übersehen werden. Hier ist besonders die anhaltende Bedeutung der Familie als primäre Hilfsquelle in Notlagen zu nennen, ebenso die Revitalisierung der kirchlich-religiösen Armenpflege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daneben spielten alte wie neue Formen der bürgerlichen Philanthropie und der genossenschaftlichen Selbsthilfe eine wichtige Rolle. Armenpolitik war nicht nur eine administrative Maßnahme zur Bewältigung drängender sozialer Probleme, sondern sie widerspiegelte örtlich variable gesellschaftliche Traditionen und Wertvorstellungen, Machtkonstellationen und Distinktions­bedürfnisse.

Das Teilprojekt interessiert sich denn auch nicht in erster Linie für die im städtischen Bereich bereits relativ gut erforschte Entfaltung der öffentlichen Wohlfahrtsverwaltungen auf der rechtlich-institutionellen Ebene. Die zentralen Ziele sind vielmehr:

1. Die Erforschung des praktische Funktionierens von Armenpolitik im Kontext von dynamischen städtischen Gesellschaften. Der Begriff Armenpolitik dient uns einerseits als Überbegriff für historisch wechselnde Termini wie Armenwesen, Wohlfahrtspflege oder Sozialfürsorge, die sich auf jeweils zeitspezifische Problemlagen und Lösungsversuche beziehen. Vor allem aber soll er darauf verweisen, dass die Unterstützung von Notleidenden sowie die an sie geknüpften Bedingungen und Ausgrenzungsmechanismen als das Resultat von komplexen Aushandlungs­prozessen verstanden werden, an denen diverse Akteursgruppen beteiligt waren. Uns in­teressieren die Haltungen von staatlichen und kommunalen Behörden, Kirchen und Vereinen, privaten Stiftern und ehrenamtlichen Helfern, von Nachbarn und Verwandten gegenüber dem Phänomen Armut, ihre Verbindung zu je spezifischen „Kulturen der Wohltätigkeit“ sowie deren Veränderungen und Konstanten im Verlauf des Untersuchungszeitraums.

2. Die Erforschung von Lebensläufen und Überlebensstrategien der Armen selbst. Welche ge­schlechts-, alters- oder familienstandspezifischen Wege führten in die Armut, welche even­tuell wieder aus ihr heraus? Wie nutzten Hilfsbedürftige die heterogenen öffentlichen und privaten Unterstützungsangebote? Wann waren sie bereit, auf kriminalisierte Formen der Existenzsicherung wie das Betteln oder die Prostitution zurückzugreifen? Inwieweit bildeten verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Netzwerke einen Schutz vor der völligen Verar­mung, und welche Rolle spielte die Migration zwischen Stadt und Land als aktive Strategie, um der Armut zu entkommen?

3. Der Vergleich von Armutsrisiken und Armenpolitiken in Gesellschaften mit unterschiedlichen nationalen, konfessionellen und sozioökonomischen Prägungen. Die auf der Mikroebene einzel­ner Städte angesiedelten Forschungsarbeiten sollen durch die Abstützung auf gemeinsame Frageraster und methodische Zugriffe Bausteine für eine vergleichende Armutsgeschichte Westeuropas in der Epoche von Urbanisierung und Industrialisierung liefern.

Das Untersuchungsfeld bilden zunächst rheinische (Duisburg, Düsseldorf, Köln)und britische (Glasgow) Städte. Für diese Auswahl war entscheidend, dass es sich um Städte mit abweichender konfessioneller und sozioökonomischer Struktur handelt, die aber alle in rasch expandierenden industriellen Ballungs­räumen lagen, welche durch Migrationsströme mit den in dem Projekt B 5 untersuchten ländlichen Armutsgebieten verbunden waren. Diese Verbindung soll genutzt werden, um in Kooperation mit Projekt B 5 die Lebensläufe und Familiengeschichten von migrierenden Armen zu rekonstruieren. Als Arbeitsinstrument hierfür wird eine Datenbank angelegt, welche die Erfassung und Verknüpfung von personenbezogenen Daten aus Melderegistern, Unterstützungsakten, Verzeichnissen von Anstalts­insassen, etc. ermöglicht.

Team

Projektleitung
Prof. Dr. Andreas Gestrich
Prof. Dr. Lutz Raphael

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Dr. Beate Althammer 
Michèle Gordon (2002-2007) 
Jens Gründler
Katharina Brandes 

Studentische Hilfskräfte
Christina Hellmold
Tanja Hinterholz
Eva Thielen

Weitere beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Dr. Thomas Grotum
Dr. Gabriele Lingelbach (Wiss. Assistentin)

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Publikationen

Die Projektveröffentlichungen werden in der zentralen Online-Bibliographie im Rahmen der SFB-Publikationsplattform sfb600-online nachgewiesen.
Kategorie Allgemein